Legendenstatus Die britische Science-Fiction-Serie „Doctor Who“ erlebt ihr 60-jähriges Jubiläum und erhält einen neuen Doctor. Freitag-Autor Georg Seeßlen erklärt den Kult
Den Daleks fällt beim Anblick von Menschen nichts anderes als ein manisch-ostinates „Eliminieren“ ein
Foto: Kevin Walsh/Alamy
Was braucht man für eine erfolgreiche, gar „kultige“ TV-Serie? Erstens natürlich ein gutes Konzept. Das heißt: die Konstruktion einer Erzählmaschine, die zugleich die verlässliche Wiederkehr von Motiven und Charakteren erlaubt, die dem Publikum ans Herz wachsen, und eine Variationsbreite entfaltet, in der immer wieder auch Überraschungen oder mehr oder weniger raffinierte Code-Brechungen stattfinden können. Das Ganze in einer Bildwelt, die nach einem ähnlichen Prinzip gestaltet ist: ein Kern der ikonografischen Stabilität, darum herum ein schön suggestives Durcheinander. Am Ende steht die Rückkehr in den heimatlichen Kern, und dann hat die Serie die Welt wieder in Ordnung gebracht. Bis zur nächsten Folge jedenfalls.
Zwe
Zweitens braucht eine TV-Serie eine Offenheit für Allegorien und Metaphern. So wie eine Star-Trek-Folge nicht bloß ein Weltraum-Märchen erzählt, sondern auch ein Idealbild moderner (amerikanischer) Gesellschaft entwirft, so liefert eine Tatort-Sendung nicht nur ein Mörder-Puzzle mit mehr oder weniger interessanten Charakteren, sondern auch eine „Behandlung“ aktueller oder andauernder sozialer Konflikte. Und drittens braucht eine erfolgreiche TV-Serie eine Produktionslegende. Das heißt: Das, was hinter den Kulissen und vor den Dreharbeiten geschieht, muss ein Teil von Vergnügen und Identifikation werden. So eine Serie erzeugt eine Schöpfungslegende.Was eine solche Produktions- und Gründungsgeschichte anbelangt, ist die BBC-Serie Doctor Who vermutlich unschlagbar. Da war im Jahr 1963 – das Jahr, in dem das erste Album der Beatles erschien – eine junge Frau namens Verity Lambert, die als erste Frau einen Produzenten-Job bei der BBC übernahm, da war ein junger Regisseur, Waris Hussein, der als erster Nicht-Weißer die Studiokameras dirigieren sollte, da war eine Komponistin, Delia Derbyshire, die in den Tonstudios des Senders mit völlig neuen, elektronischen Klängen experimentierte und eine Titelmusik schuf, die noch heute eine bizarre Mischung aus Vertrautheit und Erregung liefert.Delia Derbyshire hat übrigens später bekannt, dass bei der Arbeit an diesen Klängen die Erinnerung an Nächte in London spukte, als die Alarmsirenen einen Luftangriff der Deutschen ankündigten. Man mag dieser Fährte nachgehen: Wie viel Trauma steckt in Geschichten, die auf den ersten Blick kaum etwas anderes als fantastischer Nonsens sind? Die Hauptrolle schließlich übernahm ein Schauspieler, der, wie man so sagt, schon bessere Tage gesehen hatte. Der erste Doctor, William Hartnell, wuchs, schwankend zwischen Melancholie und Größenwahn, so sehr in die Rolle hinein, dass er gelegentlich vergaß, zwischen Fiktion und Biografie scharf zu trennen. Seine nachlassenden physischen und psychischen Kräfte zwangen die Produktion dazu, den Hauptdarsteller auszuwechseln, als sich die Serie Doctor Who unerwartet erfolgreich zeigte. Beides, der Enthusiasmus und Trotz einer Gruppe von Außenseitern und Newcomern, die ihre große Chance erkannten, und die Tragödie eines Darstellers, der fürchten musste, zusammen mit seinem Charakter zu sterben, bildet eine DNA der Seriengeschichte.Das Wesen der KindheitUnd es hat eine direkte Beziehung zum Serienkonzept. Verity Lamberts Aufgabe war es, eine Science-Fiction-Serie für das Jugendprogramm zu entwickeln, nicht die üblichen Raumschlachten und „bug-eyed monsters“ – effektvoll, aber nicht brutal. So ersann man einen Zeitreisenden, einen „Time Lord“, den Letzten seiner Art, der in einem Gefährt namens TARDIS (Time And Relative Dimensions In Space) unterwegs ist, das äußerlich sonderbarerweise einer britischen Polizeirufkabine ähnelt (das klassische Konstrukt britischer Fantasy bis hin zu Harry Potter: Etwas sehr Gewöhnliches ist die Pforte zum Reich der Fantasie), um etwa einen Schaden in der Zeitlinie zu beheben, eine Tyrannei zu beenden oder einfach nur abenteuerliche Besuche abzustatten. Der Time Lord, der sich der Einfachheit halber einfach nur „the Doctor“ nennt, wählt sich einen menschlichen Begleiter oder eine Begleiterin, oder ein Mensch wählt eine Reise in der TARDIS, von der die Serie nicht müde wird, zu erklären, dass die enge Bescheidenheit ihres Äußeren nur Tarnung für innere Weite und Vielfalt ist. Ganz so, als erklärte man damit auch das Prinzip der eigenen Serie.Der erste Doctor hat, ganz im Sinne klassischer Abenteuerliteratur, einen kindlichen Begleiter; es ist das Modell vom versponnen-klugen alten Mann und vom abenteuerlustigen und staunensfähigen Mädchen. Aus der Not nun entstand ein weiterer Grundzug der Serie: Der Doctor „stirbt“ immer wieder, um in einer neuen Gestalt wiedergeboren zu werden, und dabei wechseln auch immer wieder die menschlichen Begleiter auf seinen Reisen durch Zeit und Raum. Aus dem alten weißen Mann in der Doctor-Funktion wurden im Lauf der Zeit verschiedene junge Helden mit höchst unterschiedlichen Anteilen von „heroisch“ und „abgedreht“, schließlich konnte der Doctor auch weiblich und nun nicht-weiß sein, so wie auch bei den Begleiter-Figuren „Diversität“ in angenehm unaufgeregter Form durchgespielt wurde. In ihren besten Zeiten spielte die Serie grandios mit rassistischen, sexistischen, klassistischen und kulturellen Stereotypen, in ihren schlechteren erfüllte sie die Vorgaben des Genre-Mainstreams. Die Besetzung der Doctor- und der Begleiter-Rolle jedenfalls wurde zum festen Teil des Serienkults. Für das britische Publikum zumindest ist die Frage, wer der nächste Doctor wird, ungefähr so wichtig wie die Frage nach dem nächsten Premierminister oder der nächsten Premierministerin.Mit einer solchen variablen Grundkonstellation nun lassen sich gleichsam alle Geschichten noch einmal erzählen, die der Fundus der Fantastik, der „wissenschaftlichen“ wie in der Science-Fiction, der märchenhaften wie in der Fantasy, der psychologischen wie im Horror, hergibt. Manchmal auf kindlich-alberne Art, manchmal in skurriler Selbstreflexion, manchmal melodramatisch und manchmal satirisch. Doctor Who folgt dabei einem sehr britischen Strang der Fantastik, der von Alice im Wunderland bis zu Per Anhalter durch die Galaxis führt (dessen Autor Douglas Adams übrigens auch Doctor-Who-Drehbücher verfasst hat) und in dem sich Fantastik, Nonsens, Alltagssatire und tiefere Bedeutung mischen.Bei Doctor Who ist eigentlich alles möglich (außer es ist langweilig), und für seine menschlichen Begleiter ist dieser Time Lord immer auch so etwas wie das weiße Kaninchen, das ein Mädchen aus der Enge bürgerlicher Vorschriften befreit, oder ein Peter Pan, der die Kinder in ein Nimmerland fliegen lässt, bevor sie vom unerbittlichen Schicksal des Erwachsenwerdens ereilt werden. Doctor Who ist nicht nur eine kindliche Serie, die auf einer zweiten Ebene eine Portion Ironie, einen Hauch von Philosophie, jede Menge Spaß mit Kultur und Geschichte und gelegentlich einen Schlenker in dunkle, hässliche Wirklichkeiten bietet, es ist vor allem eine Serie über das Wesen der Kindheit und darüber, was von ihr man verlieren muss und was man behalten kann.Immer wieder ShakespeareDie Transformation ist das Prinzip der Serie. Man sieht dem Doctor zu, wie er immer wieder ein anderer wird (und da hat die Serie ihre großen Szenen von Abschied und Hoffnung: Im tiefen Kern von Doctor Who stecken die Todesfurcht und ihre Abwehr), man sieht Kindern zu, die auf ihren imaginären Heldenreisen „erwachsen“ werden, und öfter noch sieht man Begleiter des Doctors, die sich mit seiner Hilfe aus beengenden und bedrückenden familiären und sozialen Verhältnissen befreien. Das immer wiederkehrende komisch-furchtbare Gegenbild sind die „Daleks“, seelenlose und untote Maschinenwesen, die aus irgendwelchen Gründen die Herrschaft über Zeit und Raum anstreben und denen beim Anblick von Menschen meist nichts anderes einfällt als ein manisch-ostinates „Eliminieren“.Im Doctor-Who-Universum haben freilich selbst diese Maschinenmonstren eine tragische Transformation durchlaufen. Dieses Universum – oder, modisch gesagt: Multiversum – ist nach 60 Jahren und weit über 1.000 Abenteuern, rechnet man TV- und Kinofilme, Romane, Comics und Spiele zusammen, von solcher Fülle und so voll von Rückkopplungseffekten, Zitaten und Parodien, dass nur eine angewandte, in Büchern, Chats und Foren gepflegte „Whoologie“ als Begleitung zu einer gewissen Orientierung verhelfen kann. Der Doctor selbst kann das übrigens nicht, denn er pflegt regelmäßig Teile seines langen Lebens und seiner Mission zu vergessen. Wie überhaupt die Beziehungen von Vergessen und Erinnern oder von Bewahren und Erneuern ein inneres Leitmotiv unserer Reisen mit dem Doctor bilden.Dass mit Ncuti Gatwa (vielen bekannt aus der Serie Sex Education) nun eine „Person of Color“ die Rolle des Doctors übernimmt – es ist genau gesagt die 15. Inkarnation in der Serien-Linie –, ist eigentlich kein dramatisches Statement der Diversität mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit im Fluss der Pop- und Kulturgeschichte, in der sich Doctor Who seit Anbeginn bewegte. Alles verändert sich, die Zukunft wie die Vergangenheit müssen stets neu entdeckt werden. Man muss sich allerdings aus dem Grau und der Aussichtslosigkeit der Gegenwart befreien.Das Universum, sagt einmal ein Doctor Who – ich weiß nicht mehr, welcher es war –, tendiert dazu, nicht märchenhaft zu sein. Der Doctor ist dazu da, das zu ändern. Vielleicht ist auch Doctor Who nur eine der vielen Fluchtmöglichkeiten vor der Unerträglichkeit der Gegenwart. Vielleicht ist die aber auch nicht zu überwinden ohne einen „sense of wonder“, den Geist der Wiederverzauberung. „Ich könnte“, sagt William Shakespeare, den Doctor Who mehr als einmal bei seinen Zeitreisen besucht, „in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären“. Der Doctor hilft, sie zu bewältigen. Manchmal.
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