Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Jedenfalls nicht in der Science-Fiction-Serie Black Mirror, die beim Start 2011 damit Furore machte, wie sie die nahe Zukunft im Spiegel des schnell voranschreitenden technologischen Fortschritts präsentierte. Bereits die erste Folge, ausgestrahlt im Dezember 2011 nahm in fast prophetischer Weise den Einfluss der sozialen Medien auf die Politik vorweg. In der fiktiven „Gegenwart von morgen“ der Folge The National Anthem musste ein britischer Premier der Forderung eines Prinzessinnen-Kidnappers nachgeben, sich beim Sex mit einem Schwein filmen zu lassen. Von der Zeit eingeholt erscheint dabei aus heutiger Sicht nur der Aspekt, wo es den Beratern des Premiers nicht gelingt, mittels eines „Deep Fake“ aus der Sa
Sci-Fi-Serie „Black Mirror“: Die Ängste von gestern, heute und morgen
Streaming Die neue Staffel der Serie „Black Mirror“ wendet den Blick weg von der bedrohlichen Macht der neuen Gadgets hin zu den Möglichkeiten von Horror- und Science-Fiction-Erzählungen selbst

Retrofuturismus und Melodrama: Aaron Paul als Astronaut
Foto: Netflix
ake“ aus der Sache rauszukommen.Diese erste Folge, in der der technologische Fortschritt als solcher gar keine große Rolle spielte, gab dennoch das Muster vor, dem die Serie seither folgt: Es geht immer um mehr als nur den einen überraschenden Twist am Ende. Statt die Erzählungen allein um eine Technologie und ihre Möglichkeiten kreisen zu lassen, „extrapoliert“ Chefautor und Serienschöpfer Charlie Brooker deren Auswirkungen auf die Gesellschaft und vor allem auf das Lebensgefühl der Einzelnen. Nur versprengte Fortschrittsgläubige mögen sich darüber wundern, dass die Folgen oft eine Wendung ins Horror-Genre nahmen. Jede Folge ist dabei in sich abgeschlossen und in ihrem je eigenen Universum angesiedelt – verbunden jedoch durch so genannte „Ostereier“, die den aufmerksamen Zuschauer belohnen.In der aktuellen sechsten Staffel sieht man zum Beispiel in der ersten Folge ein Pärchen, das sich durch das Angebot eines fiktiven Streaming-Anbieters klickt. Eine der auszuwählenden Serien trägt den Titel Sea of Tranquility – ein Titel, der bereits in der beschriebenen allerersten Folge von 2011 auftauchte. Dort empfiehlt sich der für das „Deep Fake“ in Frage kommende Regisseur durch seinen „HBO Mond-Western“ desselben Titels. Als „Sci-Fi-Fantasy-Anime-Serie“ kehrt der Titel in Staffel 3 an einer Stelle wieder. Und in Staffel 5 wird ein „Sea of Tranquility-Reboot“ gleich zwei Mal erwähnt. Eine eigene Bedeutung lässt sich diesem Netz an Referenzen nicht wirklich zuschreiben – außer vielleicht dem vagen Gefühl, dass sich aus den schnitzeljagd-artigen Verweisen wiederum eine eigene Black-Mirror-Folge erzeugen ließe.Nicht nur die Digitaltechnik alleinDabei stellt die neue Staffel 6 eine dezidierte Abkehr vom bislang dominierenden Konzept dar, in dem die zwischen 40 und 89 Minuten langen Folgen von diversen Überwachungs- und Simulations-Gadgets handelten. Zwei der fünf neuen Folgen spielen in einer Welt ganz ohne Handys, in weiteren zwei werden sie wirklich nur als Telefon benutzt.Einzig in der ersten, Joan is Awful betitelten Folge, spielen Smartphones und der darin personifizierte „Überwachungskapitalismus“ eine nennenswerte Rolle. Annie Murphy verkörpert besagte Joan, die es sich nach einem anstrengenden Tag – sie hatte auf ihrer Arbeit jemanden entlassen müssen, von einem alten Liebhaber gehört und ihrer Therapeutin peinliche Dinge gestanden – zusammen mit ihrem Freund auf dem heimischen Sofa mit einer Serie gemütlich möchte. Der Bildschirm ihres Streaminganbieters "Streamberry" gleicht in allem, bis hin zum charakteristischen Auftakt-„Ta-Damm!“ dem Netflix-Portal selbst, das Black Mirror seit der dritten Staffel von 2016 produziert und weltweit vertreibt. Eine der Joan angebotenen Serien ist das erwähnte Sea of Tranquility, eine weitere heißt Loch Henry, was der Titel von Folge 2 der neuen Staffel ist. Und eine Kachel trägt die Aufschrift Joan is Awful. Ehe sich Joan wehren kann, hat ihr Freund schon eingeschaltet. Was gezeigt wird, versetzt Joan in Panik. In der Serie nämlich verkörpert Salma Hayek sie, Joan, in den Ereignissen ihres heutigen Tags: beim unschönen Entlassen der Mitarbeiterin, beim Betrachten der Nachricht vom alten Freund und bei der Sitzung mit der Therapeutin.Eingebetteter MedieninhaltIrgendwann später, die Handlung ist schon ein paar Drehungen weiter, bekommt Joan erklärt, wie so etwas möglich sei: Eine Kombination aus Überwachung durch die Iphones und Alexas dieser Welt zusammen mit künstlicher Intelligenz und Deep-Fake-Technik kann innerhalb von Minuten das in Video verwandeln, was eben noch Realität war. Salma Hayek ist selbst entsetzt; sie hat doch nur ihr digitales Konterfei zur Auswertung an Streamberry verkauft und nun keinerlei Einfluss mehr auf ihre Rollenwahl. In ihrer eigenen Serie wird sie von Cate Blanchett verkörpert, während Joan erfahren muss, dass sie gar nicht die wahre Joan ist, sondern nur die Darstellerin einer weiteren armen Frau, die ausgebeutet wird. Die Bild-im-Bild-im-Bild-Maschine kennt kein Anhalten mehr; immerhin proben die Frauen den Aufstand. Aber nutzt es etwas, das glitzernde, sich drehende Ding zu zerschlagen, das schließlich den „Algorithmus“ oder die „Cloud“ oder die „Artificial Intelligence“ repräsentiert? Ist das Ding, gegen das Joan, Salma und all die anderen sich wehren, nicht längst vollkommen immateriell?Unheimlich zeitgemäßEinerseits erweist sich Black Mirror mit dieser Folge einmal mehr als geradezu unheimlich zeitgemäß: Ein wichtiger Punkt der aktuell streikenden Autoren in Hollywood ist der, dass sie nicht vorschnell durch künstliche Intelligenz ersetzt werden wollen. Das Thema, das Joan is Awful für die übrigen vier Folgen der neuen Staffel setzt, weist aber in eine andere Richtung: Es geht weniger um die Erfindungen des digitalen Zeitalters als um die Humantechnik des Erzählens selbst, nicht um TikTok, ChatGPT oder AppleVisionPro, sondern um Genres und wie sie unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit formen.Joan is Awful repräsentiert dabei die klassische Science-Fiction-Erzählung. Die zweite Folge, Loch Henry, nimmt Bezug auf den True Crime-Boom der Gegenwart. Da besuchen die Filmstudenten Davis (Samuel Blenkin) und Pia (Myha‘la Herrold) Davis‘ Mutter in einem verlassenen Ort im schottischen Hochland. Als Pia erfährt, dass es hier vor Jahren einen Serienkiller gab, der Touristen tötete, überredet sie Davis dazu, darüber eine True-Crime-Doku zu drehen. Mit den alten Videobändern, auf denen Davis‘ Mutter eine seinerzeit beliebte Krimiserie aufzeichnete, wollen sie Zeit-Kolorit für ihre Doku schaffen, bis die Sichtung des körnigen Materials allem eine ganz neue Wendung gibt. In typischer Black Mirror-Manier sieht man in der Schlussszene, wie die True-Crime Doku, natürlich eine Streamberry-Produktion, mit einem britischen Filmpreis ausgezeichnet wird.Die dritte Folge wechselt in die ungewohnte Tonart eines Melodrams: In einer parallelen Zeitlinie des Jahres 1969 verrichten zwei Astronauten, gespielt von Aaron Paul und Josh Hartnett, einen sechsjährigen Dienst im All. Per Bewusstseins-Transmission können sie zur Erholung in ihrer Freizeit in ihre „Replikas“ auf der Erde schlüpfen und Zeit mit ihren Familien verbingen. Als „Roboter-Menschen“ ziehen sie den Hass eines Hippie-Kultführers auf sich, der in Charles Manson-Manier eine schreckliche Tat vollbringt, was eine Spirale von tragischen Verwicklungen nach sich zieht. Wieder geht es nicht um die Raffinessen der Körpertausch- oder Replika-Technik als vielmehr um die Gefühle, die sie erzeugt. Wobei der nostalgische Flair des Retro-Futurismus der Ausstattung den Emotionen besondere Resonanz verleiht.Folge 4, Mazey Day treibt das Spiel mit der Verschachtelung nach Matroschka-Puppen-Art noch ein Stückchen weiter: als medienkritisches Zeitstück, das exakt im Jahr 2006 angesiedelt ist, in dem sich dann aber ein ganz anderes Genre verbirgt – samt einer weiteren Anspielung auf Sea of Tranqulitiy. Die letzte Folge, Demon 79, kommt schließlich zum Genre des guten alten Horrorthrillers zurück, ohne jeden technischen Firlefanz. Trotzdem ist die Welt, das Großbritannien von 1979, schon schlecht genug, wie eine Schuhverkäuferin mit indischem Migrationshintergrund Tag für Tag erleben muss. Wie von Jordan Peele (Get Out) und anderen vorgemacht, erweist sich der Horrorthriller als perfektes Vehikel, um strukturellen Rassismus zu thematisieren. Wer braucht Smartphones, wenn ein guter alter Talisman einen Dämon heraufbeschwören kann, der sich wie Boney M.-Lead-Sänger Bobby Farrell kleidet? „Ra-Ra-Rasputin“ und die Drohung eines Nuklearkriegs – die Ängste von gestern gleichen eben doch denen von heute.