Der Bundestag schreibt Geschichte. Vor wenigen Tagen hat das Parlament mit den Stimmen von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU die Resolution „Holodomor in der Ukraine: Erinnern – Gedenken – Mahnen“ mit Thesen zur Hungerkatastrophe in der sowjetischen Ukraine vor 90 Jahren verabschiedet. Darin heißt es, die „massenhafte Tötung durch Hunger“ habe damals „auch die politische Unterdrückung des ukrainischen Nationalbewusstseins zum Ziel“ gehabt. Begründung: „Das ‚Ukrainische‘ war Stalin zutiefst suspekt.“ Das „Streben der sowjetischen Führung“ habe daher der Unterdrückung der „ukrainischen Lebensweise, Sprache und Kultur“ gegolten. Damit liege „aus heutiger Perspekt
ektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe“.Eingeleitet wird das Ganze mit dem Satz: „Der Deutsche Bundestag stellt fest.“ Doch vom Feststellen unwiderlegbarer Tatsachen kann in der Resolution keine Rede sein. Noch 2017 hat der Petitionsausschuss des Parlaments konstatiert, es spreche „einiges“ gegen die Einstufung des „Holodomor“ als Völkermord. Außerdem ist lange bekannt, dass zu den Millionen Opfern der Hungerkatastrophe in der Sowjetunion auch Russen und Belarussen, Baschkiren, Kasachen, Wolgadeutsche und Angehörige anderer Völker zählten. Kein einziges Dokument aus sowjetischen Archiven belegt, dass die damalige Führung der UdSSR bei ihrer repressiven und brutalen Agrarpolitik eine ethnische Säuberung anstrebte. Wäre Stalin tatsächlich, wie der Bundestag behauptet, „das Ukrainische“ „zutiefst suspekt“ gewesen, warum hat er dann den Ukrainer Nikita Chruschtschow 1935 zum Chef der Moskauer Parteiorganisation der KPdSU gemacht? Die multinational zusammengesetzte Staatsführung der Sowjetunion verfolgte augenscheinlich nie das Ziel, die Ukrainer als ethnische Gruppe durch diese Politik zu vernichten oder zu dezimieren.Schon der Kampfbegriff „Holodomor“ wird von Vertretern rechtsnationaler Kreise in der Ukraine bewusst verwendet, um den Holocaust zu relativieren, an dem auch ukrainische Nationalisten als Kollaborateure des NS-Staates beteiligt waren. Der Bundestag hat das völlig ausgeblendet. Neue Forschungsarbeiten, welche die Thesen des Bundestages stützen würden, gibt es nicht. Statt historischer Erkenntnisse liegt eine forsche Politik der Regierung Scholz den Bundestagsthesen zugrunde. Diese entsprechen den Ansichten und Bedürfnissen der politischen Führung in Kiew. Der Bundestag „stellt fest“, es würden „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Ukraine seit Langem zum Holodomor forschen“. Dagegen forciere „die autoritäre Staatsführung in Russland unter Wladimir Putin eine ideologisierte Geschichtspolitik“.Nationalistische VerklärungDie Realität der ukrainisch-russischen Geschichtskontroversen ist jedoch komplexer, als der Bundestag behauptet. Wer in der Ukraine von der Position der Staatsführung abweichende Einschätzungen zum „Holodomor“ vertritt und die Hungerkatastrophe nicht als gezielten Genozid einschätzt, kann in den von der Kiewer Regierung kontrollierten Gebieten der Ukraine kaum noch publizieren. Der autoritäre Trend zur ideologisierten Geschichtspolitik ist kein Monopol Moskaus. Die Bundestags-Resolution „fordert die Bundesregierung auf“, nunmehr „jeglichen Versuchen, einseitige russische Narrative zu lancieren, weiterhin entschieden entgegenzuwirken“. Dabei wird der Eindruck erweckt, als könne es einseitige ukrainische Narrative, etwa die Verklärung von Nationalistenführern wie Stepan Bandera, gar nicht geben.Der Bundestag macht die Geschichtswissenschaft zur Magd militärpolitischer Interessen der NATO, verlangt er doch in derselben Resolution von der Bundesregierung, die Ukraine „im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel weiterhin politisch, finanziell, humanitär und militärisch zu unterstützen“. Wo es darum geht, Waffenlieferungen zu begründen, darf es in der Betrachtung der ukrainischen Geschichte nur noch eine Wahrheit geben – die der politischen Führung in Kiew.