Von einem Wahlkampf mit Spannung, was Personen und Inhalte angeht, kann bei der für den 17. März anstehenden Präsidentenwahl keine Rede sein. Schon gar nicht ist offen, ob ein anderer Bewerber als der Amtsinhaber eine Chance haben könnte. Stand diese Frage jemals in der Geschichte russischer Wahlen? Selbst zu Zeiten eines Präsidenten Boris Jelzin (1991 – 2000) hatten Gegenkandidaten nie den Hauch einer Chance. Man denke an das Votum im Juni 1996, als der KP-Kandidat Gennadi Sjuganow ungleich populärer war als der damalige Staatschef. Inzwischen gilt als unstrittig, dass zugunsten Jelzins manipuliert wurde, auf den sich der Machtapparat geeinigt hatte.
Es zählt zu den Paradoxien im heutigen Russland, dass die jetzige Abstimmung weniger gesteuert sein
radoxien im heutigen Russland, dass die jetzige Abstimmung weniger gesteuert sein wird als seinerzeit unter Jelzin. Bereits im Februar 2023 kamen Soziologen des unabhängigen Moskauer Forschungsinstitutes Lewada zu dem Resultat, dass mehr als 68 Prozent der Russen der Auffassung seien, Wladimir Putin führe das Land „in die richtige Richtung“. Das schließt die Zustimmung zum militärischen Vorgehen in der Ukraine ein, das von vielen als Verteidigungskrieg gegen den „kollektiven Westen“ wahrgenommen wird. So wird weniger der Präsident gewählt als ein Plebiszit über Putin abgehalten. Insofern entspricht ein zu erwartendes Ergebnis von gut 80 Prozent für ihn einer breiten Volksstimmung, ohne dass es dafür durchweg massiver Fälschungen bedürfte. Dieses Gesamtbild ändert sich auch dadurch nicht, dass die Eliten in Regionen wie Tschetschenien den Kreml regelmäßig mit Wahlergebnissen jenseits der 90 Prozent zu erfreuen suchen.Russlands Demographie-ProblemPutin – er tritt als unabhängiger Kandidat an und achtet auf Distanz zur unpopulären Bürokraten-Partei „Einiges Russland“ – hat bis zuletzt darauf verzichtet, als solche ausgewiesene Wahlmeetings abzuhalten. Er nutzte allein öffentliche Auftritte im Amt, um für sich zu werben, verband Sportlich-Stählernes wie den Flug mit einem neuen Langstreckenbomber und Militärisch-Strammes in Begegnungen mit Offizieren. Der Kriegsherr inszenierte sich als Kümmerer um alltägliche Sorgen. Häufig zur besten Sendezeit in den Abendnachrichten des Staatsfernsehens trat ein vorausschauend handelnder Staatschef auf. Beim Besuch in der Panzerfabrik „Uralwagonsawod“ in Nischni Tagil am Ural erkundigte er sich nach dem Zustand der sozialen Infrastruktur in der Stadt und zeigte sich darüber gut im Bilde. Oder ihn beschäftigten die demografischen Probleme des Landes. In seiner Rede an die Nation, der „Poslanje“, am 29. Februar, griff er dieses Thema auf, das schon bei seiner ersten Ansprache für dieses Format im Mai 2000 im Blickpunkt stand. Russlands Bevölkerung schrumpft, und ein knappes Vierteljahrhundert nach Putins erstem Amtsantritt Anfang 2000 hat sich die Lage nicht wirklich entspannt.Auch wenn oppositionelle Russen seine Werbeoffensive für mehr Geburten angesichts des Krieges als zynisch einstufen, sollte die Wirkung nicht unterschätzt werden. Das ausgerufene „Jahr der Familie“ mit Parolen wie „Wir bewahren Traditionen. Wir entwickeln Russland“ trifft sich mit dem konservativen Lebensgefühl großer Teile der Bevölkerung. Der proklamierte Beistand für kinderreiche Familien als soziale Priorität nützt Putins Basis, die wesentlich breiter ist als die der meisten westeuropäischen Politiker. Der Ansatz findet auch deshalb Resonanz, weil er einräumt, dass 30 Prozent der kinderreichen Familien in Armut leben.Wie eng jedoch der Spielraum für kontroverse Debatten im öffentlichen Raum Russlands derzeit ist, zeigt der Versuch des liberalen Politikers Boris Nadeschdin, zu dieser Wahl anzutreten. Der promovierte Mathematiker und Physiker hatte auf ein Achtungsergebnis gehofft. Mit dezenten Äußerungen wie jener über den Krieg, man müsse „diese Geschichte mit der Ukraine beenden“, empfahl er sich als leicht dissonante Zweitstimme gegenüber der Staatsmacht. Dass die Zentrale Wahlkommission ihn dennoch suspendierte, folgte mehr der Logik der Lage als den Plänen des Kreml, wo Nadeschdin als im Grunde harmlos gilt. Er war Ende der 1990er Jahre Spitzenberater des Premiers Sergej Kirijenko, der jetzt als Vize der Präsidialadministration die Innenpolitik steuert. Doch Nadeschdin lockte sogenannte nichtsystemische Oppositionelle an, darunter Anhänger des im Februar unter ungeklärten Verhältnissen in Haft gestorbenen Putin-Gegners Alexej Nawalny. Damit wurde das Experiment Nadeschdin aus Sicht des Machtzentrums zum unnötigen Risiko. Dass ihm ein Antritt unter Verweis auf angeblich unkorrekte Unterschriften von Unterstützern verweigert wurde, zeigt: Das System der gelenkten Opposition erweist sich in Kriegszeiten als nicht sehr flexibel und folgt der Devise: keine Experimente.Wahlkampfhilfe von Emmanuel MacronAuffällig ruhig verhielten sich während der Wahlkampagne die Anhänger des im Juli bei einem Flugzeugabsturz umgekommenen Söldnerführers Jewgeni Prigoschin und die Gefolgschaft des inhaftieren Ultranationalisten Igor Girkin, der 2014 beim Aufstand im Donbass als „Verteidigungsminister“ der Donezker Volksrepublik agierte. Eine reale politische Agenda haben die oft wortgewaltigen Hardliner nicht außer der Devise eines totalen Krieges. Gerade danach sehnen sich die meisten Russen keineswegs. Sie halten Putin zugute, ihnen fern der Front einen überwiegend friedlichen Alltag zu ermöglichen.Noch bei der Präsidentenwahl 2018 waren drei oppositionelle Bewerber mit relevantem Profil präsent: der Kommunist Pawel Grudinin, der Begründer der liberalen Partei „Jabloko“, Grigori Jawlinski, und die Fernsehmoderatorin Ksenia Sobtschak. Den jetzigen Gegenkandidaten, dem KP-Politiker Nikolai Charitonow und dem Rechtspopulisten Leonid Sluzki von der Liberaldemokratischen Partei, wird dagegen kaum jemand Charisma bescheinigen.Auf Rückhalt bei Millionen Wählern stieß Putin zuletzt, als er auf die Ankündigung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron reagierte, womöglich Bodentruppen in die Ukraine zu beordern. In seiner Botschaft an die Nation erinnerte Putin „an das Schicksal derer, die bereits ihre Kontingente in das Gebiet unseres Landes geschickt haben“ – eine Anspielung auf Napoleon und Hitler. Wer Truppen nach Russland entsende, so Putin, bedrohe die Welt „mit einem Konflikt unter Verwendung von Atomwaffen“ – „mit der Vernichtung der Zivilisation“. Während solcher Auftritte pflegt der Präsident auch anzudeuten, welches Land er in den nächsten sechs Jahren formen möchte. Die Teilnehmer der „Speziellen Militäroperation“, so Putin in der „Poslanje“, sollten „auf führende Positionen rücken“ und sich „der Erziehung der Jugend“ widmen, Städte und Staatsunternehmen führen oder Regionen leiten. Sie sollten im Staat künftig eine „wirkliche Elite“ formieren, im Gegensatz zur „Elite“ der 1990er, die sich „vor allem die Taschen vollgesteckt hat“. Diese kampfgestählte Führungsschicht werde unter der Devise „Zeit der Helden“ geschult.Ganz neu ist dieser Ansatz nicht. Schon nach dem zweiten Tschetschenien-Krieg (1999 – 2009) stiegen Generäle zu Führern von Regionen auf. Der Effekt wurde in der Präsidentenverwaltung später eher kritisch beurteilt. Nicht jeder stramme Kommandeur erwies sich als wirtschaftlich kompetent. Und ob Frontoffiziere den Verlockungen der Korruption resistenter gegenüberstehen als andere, bezweifeln selbst Moskauer Loyalisten.