Wer oder was den Bruch des Staudamms bei Kachowka im Chersoner Gebiet im Südosten der Ukraine ausgelöst hat, bleibt unklar. Waren es russische Minen, die den Damm zerrissen, wie die ukrainische Regierung behauptet, oder waren es ukrainische Granaten, wie Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagt?
Neben den verheerenden humanitären und ökologischen Auswirkungen hat der Dammbruch auch politische und militärische Folgen. Die Fluten des Krieges haben für lange Zeit die Hoffnung auf einen Waffenstillstand ertränkt. Auf beiden Seiten der Frontlinie wird es noch schwieriger, einen Ausweg aus der Sackgasse des Krieges zu finden. Verhandlungen sind in noch weitere Ferne gerückt. Der russische Militärminister Schoigu beschuldigt die Ukraine eines
gen sind in noch weitere Ferne gerückt. Der russische Militärminister Schoigu beschuldigt die Ukraine eines „terroristischen Aktes“ am Staudamm. Der Präsident der Ukraine wiederum, Wolodymyr Selenskyj, bezeichnet Russland jetzt als „Terrorstaat“.Offensive zum Asowschen MeerMoskauer Militärexperten versuchen unterdessen, die Folgen der Fluten für den Fortgang der Anfang Juni begonnenen ukrainischen Offensive einzuschätzen. Dabei fürchten manche von ihnen, die Überflutung könne den ukrainischen Vormarsch in Richtung Südosten erleichtern. Denn am linksseitigen Ufer des Dnjepr hatte die russische Armee Minenfelder angelegt, um einen Durchbruch der ukrainischen Streitkräfte in Richtung des Asowschen Meeres zu verhindern. Diese Minenfelder sind durch die Überschwemmung nicht mehr funktionsfähig.Ein Vormarsch zum Asowschen Meer nordöstlich der Krim ist ein wesentliches Ziel der Offensive der Führung in Kiew. Gelänge dieser Durchbruch, verlöre Russland die Landbrücke zwischen dem Donbass und der Halbinsel Krim. Vertreter der Ukraine argumentieren, die russische Führung habe den Vormarsch der Truppen Kiews durch eine Zerstörung des Dammes erschweren wollen.Putin warnt die RussenDie russische Führung wiederum räumt ein, dass sie es mit einer ernsthaften und großangelegten Offensive des ukrainischen Gegners zu tun hat. Russlands Präsident Wladimir Putin konstatierte am 9. Juni vor Journalisten in Sotschi „die Nutzung der strategischen Reserven der ukrainischen Armee“ für die Offensive. Obwohl Putin hohe Verluste der ukrainischen Streitkräfte behauptete, widersprach er zugleich Behauptungen, Kiews Offensive sei gescheitert. Stattdessen bereitete ein ernst blickender Staatschef die russischen Fernsehzuschauer auf schwere Tage und Wochen vor, mit einem knappen Satz: „Das Angriffspotenzial der Streitkräfte des Kiewer Regimes bleibt erhalten.“Änderung der Kreml-PropagandaVom „Sieg“ ist dieser Tage nicht mehr die Rede in Moskau. Auch Putin spricht nicht davon, wenn er vor Journalisten oder am „Tag Russlands“, am 12. Juni, vor verletzten Soldaten in einem Lazarett auftritt. Eine russische Offensive etwa in Richtung Odessa oder Charkiw ist in Moskauer TV-Studios selbst bei Hitzköpfen kein Thema mehr.Verschwunden aus dem Wortschatz staatsnaher Propagandisten ist auch der Begriff der „neuen Ukraine“, die mit Moskauer Segen erblühen werde. Aus der Mode gekommen sind auch die von Putin zu Beginn des Militäreinsatzes verwendeten Begriffe „Denazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine. Das war eine vage Zielmarke, die Kreml-Propagandisten dem Potsdamer Abkommen vom August 1945 entnommen hatten. Denkfehler bei der „Demilitarisierung“Ukraine-Kenner aus dem Russischen Institut für Strategische Studien, das der frühere Premierminister Michail Fradkow leitet, hatten bereits im vorigen Jahr auf einen Denkfehler hingewiesen, der dem Plan zur „Demilitarisierung“ der Ukraine zugrunde lag. Deutschland 1945 war vollständig besetzt. Jede Stadt ließ sich kontrollieren. Über ein vergleichbares Potenzial gegenüber der Ukraine, so Experten des Instituts, verfüge die Russische Föderation nicht. Die taktische Defensive, in der die russische Armee sich an der ukrainischen Front befindet, spiegelt sich auch in der Propaganda. „Es gibt so einen Beruf, die Heimat zu schützen“ steht auf großflächigen Plakaten, die Soldaten in Uniform zeigen. Die Propaganda-Poster säumen die zentralen Moskauer Straßen. Nach offizieller russischer Lesart sind die von Russland eingenommenen Gebiete im Südosten der Ukraine inzwischen Territorium der Russischen Föderation. So wird die Landnahme aus offizieller Moskauer Sicht zur Landesverteidigung. Im Moskauer Alltag aber sind diese heiklen Fragen kaum ein Thema. Die Bewohner der Russischen Hauptstadt bereiten sich auf den Datschen-Sommer vor, fast so, als lebten sie im Frieden.