Die ukrainische Gegenoffensive hat begonnen. Lange Zeit war sie versprochen, beworben und von Medien, Politik und Kriegsreportern grenzübergreifend zu der Entscheidungsschlacht des Ukraine-Krieges ausgerufen worden. Verschiedene ukrainische Vertreter, etwa Präsidentenberater Mychajlo Podoljak oder Kyrylo Budanow, Chef des Militärgeheimdienstes GUR, versprachen die „Befreiung aller Gebiete“ innerhalb weniger Monate. Dementsprechend hoch sind die Erwartungen in der Ukraine.
Der Start der Offensive gestaltete sich bislang allerdings mehr als schwierig. Anders als im vergangenen Jahr bei Cherson oder Charkiw, lassen russische Truppen bislang keinerlei Hinweise auf einen größeren Rückzug erkennen, keine „Gesten des guten Willens“ oder „
oder Charkiw, lassen russische Truppen bislang keinerlei Hinweise auf einen größeren Rückzug erkennen, keine „Gesten des guten Willens“ oder „taktische Umgruppierungen auf bessere Positionen“, wie es der russische Generalstab in der Vergangenheit formuliert hatte. Stattdessen wird auf der gesamten Länge der Front erbittert gekämpft. Die tief gestaffelten russischen Verteidigungslinien erwiesen sich als ernst zu nehmende Befestigungsanlagen und nicht als bloß symbolische „rote Linien“ des Kreml.Erste Territorialgewinne für die UkraineZwar verzeichneten ukrainische Truppen nach einer Woche erste Territorialgewinne, vor allem im Bereich des sogenannten Vremivka-Vorsprungs an der Saporischschja-Front, einer russisch kontrollierten Landzunge weit im ukrainischen Gebiet – jedoch zum Preis von teils schweren Verlusten an Mensch und Technik. Eine Kombination aus Artilleriefeuer, Luftunterstützung, weiten Minenfeldern und massivem Einsatz sogenannter FPV-Drohnen auf russischer Seite setzt ukrainischen Stoßgruppen in den ersten Tagen der Offensive sichtlich zu.Aufnahmen von zerschossenen ukrainischen Kolonnen samt moderner westlicher Technik machen die Runde. Verbrannte US-Bradleys, verlassene französische AMX-10RC-Radpanzer, brennende deutsche „Leoparden“ – die Bilder aus den ersten Tagen führten zu intensiven Debatten unter Konfliktbeobachtern, ob es sich um „zu erwartende Verluste bei derartigen Offensivoperationen“ handele oder doch um eine Fehlkalkulation des ukrainischen Generalstabs. Bedenkt man, wie wichtig für die ukrainische Regierung und den Generalstab die mediale Dimension der Gegenoffensive stets war, kann man mit großer Sicherheit sagen, dass zumindest deren erste Phase nicht nach Plan ablief.Mit voller WuchtZugleich wird sowohl in der ukrainischen als auch in der russischen Kriegsdebatte konsequent vor voreiligen Schlüssen gewarnt. Die ukrainische Offensive dürfte aus vielen Phasen bestehen und ist erst angelaufen. Strategische Reserven des neunten und zehnten ukrainischen Armeekorps – die Hauptschlagkraft der ukrainischen Offensivtruppen – griffen bislang erst gar nicht ein. Der Hauptschlag kommt noch – laut manchen Einschätzungen gegen Ende Juni oder Anfang Juli.Zudem bleibt die Saporischschja-Front derzeit zwar der am meisten umkämpfte Abschnitt, ist aber längst nicht der einzige Schwerpunkt der Gefechte: Ukrainische Offensivversuche werden bei Donezk und an der Grenze zur russischen Region Belgorod täglich gemeldet. Der ukrainische Generalstab versucht, die russischen Verteidigungslinien auseinanderzuziehen, womöglich um ab einem bestimmten Moment mit voller Wucht an einer anderen Stelle zuzuschlagen. Trotz der bereits deutlichen Verluste hat Kiew ein Groß der westlichen Technik noch nicht eingesetzt. In der zweiten und dritten Linie warten Hunderte Panzer, darunter weitere deutsche „Leoparden“, britische „Challenger“ und US-amerikanische „Abrams“ auf ihren Einsatz. Der eigentliche Schlag kommt also noch, und dies womöglich an einer ganz anderen Stelle.Wenig Zeit bis zum NATO-GipfelDiese Prognose ist weitgehend unumstritten. Kiew wird vermutlich „all in“ gehen, also alles in die Offensive werfen – aus innen- wie aus außenpolitischen Gründen. So ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj längst Geisel seines eigenen alternativlosen Narrativs vom militärischen Sieg geworden. Erfolge waren der ukrainischen Öffentlichkeit schon spätestens für Mai versprochen worden. Nun ist Selenskyj unter Zugzwang. Er muss schnellstens liefern, sonst sind unangenehmen Fragen der ukrainischen Öffentlichkeit vorprogrammiert.Außenpolitisch wiederum hat die komplette Abhängigkeit der ukrainischen Armee von westlichen Waffenlieferungen Folgen: Westliche Regierungen brauchen militärische Erfolge der Ukraine, um dem eigenen Publikum die immensen Waffen- und Finanzhilfen glaubwürdig „verkaufen“ zu können. Daher werden Selenskyj und der ukrainische Generalstab voraussichtlich mit allen Mitteln versuchen, signifikante Erfolge bis spätestens 11. Juli zu erzielen – am 11. Juli startet der NATO-Gipfel 2023 in Vilnius, eine Art „Zwischenprüfung“ für Selenskyj, was die lang erwartete ukrainische Gegenoffensive betrifft.