Können Länder des Globalen Südens in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik durch Kooperation mit China und Russland unabhängiger vom Globalen Nordwesten unter Führung der USA werden? Es war das Thema auf der diesjährigen Tagung des internationalen Waldai-Klubs im russischen Sotschi. Dort trafen sich Politologen, Historiker und Publizisten aus mehr als 40 Ländern. Das 2004 vorrangig von Professoren der Moskauer Diplomatenhochschule ins Leben gerufene Forum tagte bis zum 5. Oktober und hörte zunächst eine Analyse leitender Mitglieder des Klubs zu der von jähen Wendungen geprägten Weltlage. Die Kernthese: Es sei eine globale Ordnung im Werden, die sich fundamental von der des 20. Jahrhunderts unterscheide. Es gäbe keine Rückkehr zu klar abgegrenzten Einflusssphären wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Welt werde „multipolar“, aber nicht mehr von eindeutigen Hierarchien bestimmt sein.
Die „überwältigende Mehrheit der Länder weltweit“, so die These, werde sich künftig nicht „einander bekämpfenden Lagern“ zu- und unterordnen. Man habe mit Sphären „souveräner Staaten“ zu rechnen, die als „Teilnehmer einer Marktwirtschaft“ agierten. Eine „Autarkie“ hingegen, so der Bericht des Klubs, sei „unmöglich und nicht wünschenswert“. Es werde das Bedürfnis von Staaten wachsen, „sich äußerem Druck widersetzen zu können“. Quintessenz: Ein Block der Blockfreien, zumal unter Russlands Führung, steht nicht zu erwarten.
Stockender Aufbau eines alternativen IWF
Diese Gedanken griffen Experten aus Asien, Südamerika und Afrika auf. Dabei ging es auch um die Frage, ob die Länder der erweiterten BRICS-Gruppe (ursprünglich benannt nach Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, nunmehr ergänzt um Ägypten, Iran, Saudi-Arabien, die Arabischen Emirate, Äthiopien, Argentinien) in der Lage sein werden, eine Alternative anzubieten zum Internationalen Währungsfonds. Ein brasilianischer Experte mit Erfahrung im IWF wies darauf hin, dies sei bisher nicht der Fall. Die Zentralbanken der BRICS-Länder außer der Chinas bremsten immer noch den Aufbau einer effektiven gemeinsamen Entwicklungsbank. Hinzu käme, so ein südamerikanischer Teilnehmer, dass der von den USA dominierte IWF „Widerstand gegen den Bedeutungsverlust des Dollars“ leiste. Darauf bezog sich auch der einst als Berater in Russland tätige US-Ökonom Jeffrey Sachs. Er warf den USA vor, sie hätten „den Dollar von einer Währung in eine Waffe verwandelt“. Die künftig elf BRICS-Staaten, so seine Option, könnten mit ihren Zentralbanken „ein Nicht-Dollar-Zahlungssystem“ schaffen.
Eine russische Soziologin streifte Schwierigkeiten ihres Landes, in der Perspektive neues ökonomisches Potenzial zu gewinnen. Derzeit büße die Mittelschicht durch Inflation und sinkende Kaufkraft an Bedeutung ein. Da man überaltere, drohe Arbeitskräftemangel. Es fehle an Budgets für eine qualifiziertere Ausbildung. Ihr widersprachen ein Fachmann für Rüstungsindustrie und ein Präsidentenberater mit dem Argument, kriegsbedingt sichere die Rüstungsindustrie Innovation und Wachstum. Ein solcher Kurs kann freilich nach Kriegsende rasch zu Problemen führen.
Die Frage, wann und unter welchen Bedingungen die bewaffnete Konfrontation in der Ukraine enden könne, wurde nur kursorisch erörtert. Ein führender russischer Diplomat meinte, er habe kein Problem mit der territorialen Integrität der Ukraine, „in den Grenzen, die ihr nach dem Krieg noch bleiben“. Fast die Hälfte des Landes sei „ursprünglich russisches Territorium“ gewesen. Das klang nach einem Krieg, der noch dauern kann.
Diskussionen um Atomwaffen in Moskau
Am letzten Tag dann gab es den traditionellen Auftritt des russischen Präsidenten. Wladimir Putin begann mit einer Attacke auf „die USA und ihre Vasallen“, die „Kurs auf Hegemonie“ genommen hätten. Er warf der ukrainischen Führung vor, seit 2014 „acht Jahre Krieg gegen den Donbass“ geführt zu haben. „Nicht wir haben den sogenannten Krieg in der Ukraine begonnen. Wir versuchen, ihn zu beenden.“ Putin widersprach der Forderung des anwesenden Politikwissenschaftlers Sergej Karaganow, die eigene Nukleardoktrin zu ändern und die Schwelle zum Gebrauch von Kernwaffen zu senken. In einem Aufsatz hatte Karaganow kürzlich verlangt, eine taktische Atomwaffe gegen eine Stadt in Polen einzusetzen. Mehrere russische Politologen, darunter Fjodor Lukjanow, der Forschungsdirektor des Waldai-Klubs, hatten Karaganow in der Moskauer Zeitschrift Russia in Global Affairs entschieden widersprochen. Er müsse wissen, welche fatalen Folgen es allein schon habe, laut über Derartiges nachzudenken.
Putin plädierte dafür, dass die Staatsduma die Ratifizierung des Abkommens über den Stopp von Atomtests annulliere. Das werde „vorerst reichen“, eine Aufforderung, die das Parlament in Moskau schwerlich ignorieren kann. Dass ohne jeden Zweifel ein Einsatz taktischer Atomwaffen für das russisch-chinesische Verhältnis schwerwiegende Folgen hätte, betonten mehrere Tagungsteilnehmer aus China, mit durchweg positiver Resonanz bei Vertretern anderer asiatischer Länder. Die Debatte ließ erkennen, dass der mäßigende Einfluss Pekings auf die Führung in Moskau nicht zu unterschätzen ist.
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