„Julie – eine Frau gibt nicht auf“: Alleinerziehend außer Atem

Film „Julie – eine Frau gibt nicht auf“ von Eric Gravel zeigt mit Laure Calamy in der Hauptrolle das beschwerliche Leben einer alleinerziehenden, arbeitenden Mutter im Akkord
Ausgabe 10/2024
Immer außer Atem: Laure Calamy spielt die Hauptrolle in Eric Gravels neuem Kinofilm
Immer außer Atem: Laure Calamy spielt die Hauptrolle in Eric Gravels neuem Kinofilm

Foto: Fugu Filmverleih O'Grady und Suhren GbR

Julie und ihre Kolleginnen leisten Präzisionsarbeit. Jeder Handgriff der Zimmermädchen muss sitzen. Die Bettlaken müssen in Windeseile gespannt und die Kissen in wenigen Sekunden aufgeschlagen sein. Das Briefpapier muss millimetergenau auf dem Schreibtisch drapiert sein und der Champagnerkühler in Reichweite stehen. Selbstredend darf nirgendwo ein Staubkorn zu sehen sein.

Die Gäste des Pariser Luxushotels haben hohe Ansprüche. Für Platin-Kunden gilt das doppelt. Sie logieren in Suiten, die nach Staatsmännern benannt sind. Für heute hat sich Herr Yoshida angemeldet. Wie immer ist für ihn die „Churchill“-Suite reserviert. Aber diesmal kommt der Japaner früher an als erwartet. Er steht schon an der Rezeption. Julie (Laure Calamy) bleiben nur wenige Minuten, um das Zimmer herzurichten. Zudem muss sie heute eine Neue einarbeiten, die in der Hast eine Blumenvase umstößt. Julie ruft Verstärkung herbei und holt Ersatz aus dem Nebenzimmer. Als die Vorgesetzte ihr per Walkie-Talkie mitteilt, dass der Gast bereits im Fahrstuhl hochfährt, kann sie Entwarnung geben: Herr Yoshida wird seine Suite so vorfinden, wie er es gewohnt ist.

Das Rennen gegen die Zeit ist noch einmal gewonnen. Julie hat stets einen kühlen Kopf bewahrt. Geistesgegenwärtig führt sie ihre kleine Brigade an, deren Zusammenspiel reibungslos funktioniert. Für den Gast bleibt sie unsichtbar; Herr Yoshida wird nicht einmal mehr den Körpergeruch des neuen Zimmermädchens bemerken, wenn er die Suite betritt.

In ähnlicher Atemlosigkeit verläuft für Julie jeder Tag, jede Arbeitswoche. Und dieses frenetische Tempo hält auch der Film, in dessen Zentrum der französisch-kanadische Regisseur Éric Gravel sie stellt. Unerbittlich treiben die Montage der Editorin Mathilde von de Moortel und die elektronische Partitur der Komponistin Irène Drésel die Protagonistin voran; die Kamera von Victor Seguin weicht der Gehetzten keinen Moment von der Seite.

Der Original-Titel: „Vollzeit“

Wenn Julies Arbeitstag beginnt, ist es noch dunkel. Rasch muss die alleinerziehende Mutter das Frühstück für ihre zwei Kinder zubereiten, bevor sie zur Tagesmutter kommen. Den Vorortzug, der die Pendlerin vom Land nach Paris bringt, erreicht sie gerade noch, bevor die Türen schließen. Die Arbeit im Hotel ist eine Strapaze, über die ihre Vorgesetzte mit großer Strenge wacht. Wenn sie die Kinder von der Tagesmutter abholt, ist es schon wieder dunkel. Á plein temps, „Vollzeit“, so heißt Gravels Film im Original.

In den anderthalb Wochen, die er aus ihrem Leben erzählt, läuft nichts wie am Schnürchen. Ein Streik legt den öffentlichen Nahverkehr lahm; Julies Ex-Mann ist mit den Unterhaltszahlungen im Verzug und ruft nie zurück. Den Kredit bei der Bank kann sie nicht mehr bedienen. Wie lange wird sie noch mit Karte zahlen können, bevor diese gesperrt wird? Ihr Jüngster hat doch am Wochenende Geburtstag! Julie, die eigentlich einen Master in Ökonomie hat, hofft auf eine besser bezahlte Stellung, in der die Arbeitstage aber noch länger sein werden. Das Vorstellungsgespräch muss sie vor ihrer Chefin geheim halten, zumal sie keine Vertretung findet.

Eine Katastrophe jagt die nächste in Gravels Szenario, aber der deutsche Titel gibt Anlass zur Zuversicht: Julie ist eine Kämpferin, die sich nicht einschüchtern lässt vom Lauf der Dinge. Gravel filmt sie wie eine Actionheldin, deren Entschlossenheit nie versiegt: ein Fels, der bröckelt, aber nicht zerbricht. Jede Sequenz endet mit einem Suspense, der auf ein widerspenstiges Gelingen spekuliert.

Da könnte man die sehr deutsche Frage stellen: Darf man das? Ist es legitim, die Verharschung der sozialen Verhältnisse als fulminantes Genrestück zu inszenieren? Ist es statthaft, eine tapfere Lebensheldin in eine Thrillerheldin zu verwandeln? In Gravels Film ist das kein leichtfertiger Spagat. Er setzt Lebensdringlichkeit in Szene. Sein Realismus ist, bei aller kinohaften Rasanz, belastbar. Calamy betont die heroische Seite ihrer Figur, genießt es gar, ihr diese zu erspielen, aber bewahrt ihr einen Bodensatz gewitzter Normalität. Es war klug, die Rolle mit einer Schauspielerin zu besetzen, die auch eine sprudelnde Komödiantin sein kann. Julie weiß ihre Ellenbogen einzusetzen, um die Anfechtungen ihres Alltags zu parieren. Sie denkt einfach immer an den nächsten Schritt.

Eingebetteter Medieninhalt

Julie – Eine Frau gibt nicht auf Eric Gravel Frankreich 2021, 88 Minuten

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