Wie das Fußball-Interview seine Unschuld verlor

Kolumne Es begab sich einmal, vor langer langer Zeit, dass Fußball-Profis selbstbestimmt und ohne Berater mit Journalisten sprachen. Sogar Manuel Neuer! Und jetzt?
Ausgabe 07/2023
Fußball-Journalismus. Er war einst so romantisch
Fußball-Journalismus. Er war einst so romantisch

Foto: Imago/Horstmüller

Manuel Neuer, der Fußballtorhüter, hat ein Interview gegeben. Und es geschafft, dass tagelang nicht nur die Inhalte aus dem Gespräch diskutiert wurden, sondern auch Grundsätzliches: Durfte er einfach so sprechen? Welche Strategie verfolgte er? Das Interview mit einem Fußballprofi wurde in den Rang einer Staatsaffäre erhoben, und schon deswegen sollte man einen Blick zurück in die Geschichte werfen: Wie stellten sich die deutschen Stars des populärsten Spiels mit dem gesprochenen Wort früher dar?

Dabei stellt man fest: Es gab eine Zeit, in der so ein Interview etwas gänzlich Unschuldiges war. In den 1970er und 1980er Jahren war das Monatsheft Fußball-Magazin aus dem Hause kicker die beliebte Plattform für die Spieler. Sie verbrachten einen kompletten Tag mit dem Reporter, gingen mittags mit ihm essen, luden ihn danach noch zum Kaffee ein, ließen sich auf der Veranda vor ihrem Haus fotografieren.

Das Fußball-Magazin bezeichnete viele der Porträtierten als „Einer wie keiner“, und die Bildunterschriften hatten diesen freundlichen Sound: „Luggi Müller und seine aparte Frau Helga“. Es war auch gar nicht schwer für Journalisten, an die Berühmtheiten heranzukommen. Von den Vereinen bekamen sie Telefonlisten, man rief dann an, verabredete sich. Oder sprach nach dem Training das Zielobjekt direkt an. Die Klubs freuten sich über das Interesse an den Spielern und vertrauten darauf, dass keine Stinke-Storys entstehen würden.

Irgendwann wurde das Fußball-Magazin eingestellt, gaben die Vereine keine Telefonnummern mehr heraus, nahmen die Spieler sich Berater, die sagten, man müsse die Ware Interview verknappen und sich das Medium sorgfältig aussuchen, in dem man das Wort platziere. Und die Klubs schrieben in die Verträge ihrer Profis die Klausel, dass Interview-Vereinbarungen über die Pressestelle zu laufen hätten, nichts Böses über den Arbeitgeber oder über die Branche an sich gesagt werden dürfte und vor der Veröffentlichung jeder Satz überprüft werden müsste. Alle bekamen Angst vor dem Wort und seiner Wirkung: Würde es einen Shitstorm auslösen? Oder zu diplomatischen Verwicklungen führen?

Damals wurde auch das Zeitfenster eingeführt. Man saß nicht mehr stundenlang zusammen, sondern 15 Minuten. Nach zehn Minuten begann der Mitarbeiter der Presseabteilung, auffordernd auf die Uhr zu schauen. Wobei: Manchmal reicht eine Viertelstunde, um alles zu besprechen, weil Spieler, die aus den Nachwuchsleistungszentren kommen, floskelndes Interview-Gift sind – und der Fragende nach fünf Minuten in die Verlegenheit kommt: Was könnte man jetzt noch anschneiden? Journalisten nannten das Interview sarkastisch „Wortspende“.

Manuel Neuer übrigens gab früher mit Begeisterung Interviews. Bei der Weltmeisterschaft 2010, als er bekannt wurde und noch ein Schalker war, musste der Deutsche Fußball-Bund ihn in seiner Talk-Bereitschaft fast ausbremsen. 2014 beschränkte er sich, nun schon Bayern-Spieler, auf eine Interview-Runde zwischen Achtel- und Viertelfinale. Als Weltmeister nahm er es sich dann heraus, in Interviews seine Sponsoren zu platzieren („Coke Zero – das steht für null Gegentore“). Nichts war nunmehr unauthentischer als ein Interview mit Manuel Neuer.

Und das jetzt erschienene, am Verein vorbei geführt, ausführlich, ohne Reklame, mit viel Emotionalität, Anklagen von Vorgesetzten – zeigt es den wahrhaften Manuel Neuer? Das will man meinen. Aber: Auch dieses folgt einem klaren Design – nur eben nicht entworfen vom Verein, sondern vom Spieler. Das Interview bekam, wer bereit war, es in Neuers Sinne zu führen. Das ist die Interview-Realität 2023.

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