Skandal um DDR-Roman „Maifliegenzeit“ von Matthias Jügler: Es gibt zwei Fraktionen
Literatur Eine Lesung in Leipzig wird abgesagt, weil der Schriftsteller Matthias Jügler sich nicht zu Belegen für seine Geschichte fragen lassen will. Der Streit um seinen Roman „Maifliegenzeit“ erzählt viel über den Umgang mit der DDR-Vergangenheit
Ein verlassener Kinderwagen am Fernsehturm in Berlin (1983)
Foto: Harald Hauswald/Ostkreuz
Vom Literaturhaus in Leipzig ist vergangene Woche eine Lesung mit Matthias Jügler aus dessen Roman Maifliegenzeit abgesagt worden. Der Leiter des Literaturhauses habe dem Autor angekündigt, dass er bei der Lesung nach Belegen von vorgetäuschtem Säuglingstod in der DDR fragen werde. In Studien, die er kenne, werde das nicht bestätigt. Jügler wollte sich danach nicht fragen lassen. Aber er erzählt in seinem dritten Roman einen solchen Fall. Jetzt steht die Frage im Raum: Darf Literatur alles erzählen, weil sie durch ihre Fiktionalität geschützt ist?
So einfach ist es nicht. Vorgetäuschter Kindstod ist ein Verbrechen, das zutiefst unmenschlich ist. Eltern wurde unmittelbar nach Geburt ihres Kindes mitgeteilt, es sei verstorben, in Wirklich
torben, in Wirklichkeit aber wurde es an Kinderlose zur Adoption geben. Drei Fälle sind aus den Jahren der DDR bekannt, aber es gebe eine hohe Dunkelziffer, heißt es in Jüglers Nachbemerkung. Eindeutige Beweise sind mit dem großen Abstand zum Ende der DDR schwierig. Über solch einen Fall also schreibt der 1984 in Halle an der Saale geborene Matthias Jügler, selbst Vater von drei Kindern. Nun erfüllt diese Geschichte mit Abscheu, aber hindert nicht an der Frage: Liefert ihre Erzählung einen guten Roman?„Maifliegenzeit“: Unbekannt ist das Thema Zwangsadoption nichtMatthias Jügler erzählt aus der Perspektive des Vaters, der inzwischen Rentner ist. Als man den Eltern kurz nach der Entbindung den Tod ihres Kindes mitteilte, war Hans, der Vater, nach einiger Zeit bereit, die Nachricht als wahr zu akzeptieren. Seine Frau konnte es nie. Er verlangt es, schreit sie an, schüttelt sie, aber ihre Antwort heißt beständig: Daniel ist nicht tot. Sie verlässt ihren Mann und stirbt später an Krebs. Das Schlimme ist, dass der Vater seine Suche nach dem Sohn – sei ihr Ausgang noch so ungewiss – aufgibt. Aber dann – fast 40 Jahre sind inzwischen vergangen – ruft der Sohn an. Hans besucht ihn. Seine Adoptiveltern haben ihm den Namen Martin gegeben und viel Schlechtes über die leiblichen Eltern eingeredet. Deshalb glaubt Martin seinem Vater nicht und verbittet sich, dass er ihm eine Opfer-Geschichte auftischt. Die Einladung des Vaters zum Angeln, was dessen große Leidenschaft ist, schlägt er aus. Am Ende des Romans aber ruft er an und fragt vorsichtig nach einer Gelegenheit, mit seinem Vater fischen zu gehen.Die Erzählung dieses Falls im Roman besitzt wenig, worauf man als Leser nicht gekommen wäre: Der Vater macht seinen Frieden, die Mutter kann es nicht, stirbt an Krebs. Als schon keiner mehr damit rechnet, meldet sich der verlorene Sohn. Sie treffen sich und er weist die Wahrheit des leiblichen Vaters als billige Ausrede zurück. Dass er am Ende des Romans doch die Einladung zum gemeinsamen Angeln annimmt, hätte man angesichts der Kälte, mit der er Hans begegnet ist, nicht gedacht, aber offensichtlich sollte der Roman hoffnungsvoll enden. Unklar bleibt, welches Kind Hans anstelle seines eigenen vor 40 Jahren beerdigt hat? Die Frage wird nicht geklärt. Unglaubwürdig, dass der Sohn von den Erklärungen seines leiblichen Vaters nicht ansatzweise zu erschüttern war. Ganz unbekannt hätte ihm 2018 das Thema der Zwangsadoption dank Investigativ-Dokus nicht sein können.Die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der DDR-VerhältnisseDer Autor geht den Weg zum Sachbuch bewusst nicht, die Dokumentenlage ist dafür nicht ausreichend. Hinzu kommt, dass ihm als Nachgeborenem das eigene Erleben fehlt und er tief in den Wald der Fiktion gehen muss. Gelingt es ihm? Was macht die Geschichte zu einem guten Roman? Das Angeln. Jügler ist nach eigenen Worten ein begeisterter Angler. Bei diesem Thema bewegt er sich in „seinem“ Stoff und zeigt, wie er schreiben kann. Jügler spricht über das Angeln und die Anwesenheit der Natur im Roman als großem Trostgeber für die Figur des Hans. Es gelingt.Bleibt die Frage nach der Wahrhaftigkeit, die bei der Betrachtung der DDR-Vergangenheit nicht so obenhin mit dem Recht auf Fiktion beantwortet werden darf. Hier sprechen zwei Fraktionen: die, die darüber reden wollen, was nach der deutschen Einheit schlecht und falsch gelaufen ist, und die, die im 34. Einheitsjahr klären wollen, was in der DDR falsch und verbrecherisch gelaufen ist. Jügler stellt sich auf diese Seite. Wer wollte ihm dieses Recht nehmen. In einem Zeitungsinterview erklärt er, dass ihm Leser, die über 60 und 70 Jahre alt sind, geschrieben hätten, „… ich soll die DDR, in der doch alles so schön und toll war, nicht kaputtmachen“. Daneben hält er Stimmen von Kollegen aus seinem Umfeld, die ihm bestätigt hätten, „gut, dass noch jemand darüber schreibt, weil es eben noch nicht vorbei ist“. Das Streitpotenzial, das der Umgang mit der DDR-Vergangenheit immer noch birgt, zeigt sich dann auch in der aktuellen Literatur.Jüglers Roman Maifliegenzeit macht mit dem erzählten „Fall“ nur einen äußerst schmalen Wirklichkeitsausschnitt sichtbar. Er blickt nicht links und rechts am Fall vorbei und dirigiert die Romanfiguren auf schmalem Weg zum Ziel und stößt zur Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der DDR-Verhältnisse gar nicht vor. Beim Vater von Hans blitzt ein spannender Charakter auf, aber er wird schnell aus dem Erzählen verabschiedet. In der Betrachtung des Themas und in der Umsetzung fehlen dem Roman Zwischentöne.Genauso, wie das DDR-Bild geteilt ist, sind die Stimmen derer, die über den Roman urteilen, geteilt. Die einen wollen ihn „als Nummer eins auf der Bücherliste des Frühjahrs sehen“ und vergeben fürs Thema Bonuspunkte, die anderen fragen nach Belegen. Über das, was der Fiktion erlaubt ist, mag man in einem Ästhetik-Seminar streiten. Hier geht es um den immer noch schwelenden Streit um eine gerechte Bewertung der DDR-Vergangenheit. Das lange Jahre nach der Einheit vom Westen gepflegte Narrativ des Ostens zeigt sich immer weniger mehrheitsfähig. Das ist alles andere als unliterarisches Terrain, auf das der Autor sich im Leipziger Literaturhaus nicht ziehen lassen wollte.
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