Getreideabkommen: Russland will nicht länger hinnehmen, dass Versprechen gebrochen werden

Ukraine-Krieg Seit dem vorläufigen Scheitern des Getreideabkommens drohen sich im Schwarzen Meer die Kriegsparteien gegenseitig, dass Schiffe als feindliche Objekte angesehen und beschossen werden
Ausgabe 30/2023
Der Deal ist storniert – mit gravierenden Folgen für den Rest der Welt
Der Deal ist storniert – mit gravierenden Folgen für den Rest der Welt

Foto: Oleksandr Gimanov/AFP/Getty Images

Zum dritten und damit zum vorerst letzten Mal wurde das Getreideabkommen im Mai verlängert. Vergangene Woche jedoch ließ Moskau die von der Türkei und der UNO vermittelte Übereinkunft auslaufen. Die befürchteten Folgen sind steigende Getreidepreise auf dem Weltmarkt, denn Russland und die Ukraine lieferten vor dem Krieg fast ein Viertel der globalen Getreideausfuhren. Die Russische Föderation ist zudem größter Exporteur von Düngemitteln. Gleichzeitig droht sich die Lage im Schwarzen Meer zuzuspitzen, da beide Kriegsparteien mit völkerrechtswidrigen Angriffen auf die zivile Schifffahrt drohen.

Der im Juli 2022 abgeschlossene Vertrag regelte die Wiederaufnahme der Lieferungen aus drei ukrainischen Häfen und sicherte die Schiffspassage von Getreide durch den Bosporus. Für die 310 Seemeilen lange Stecke konnten die Frachter einen drei Seemeilen breiten Korridor nutzen. Ein in Istanbul ansässiges und mit Vertretern der Kriegsgegner, der Türkei und der Vereinten Nationen besetztes Koordinierungszentrum organisierte den Ablauf, wozu auch die Kontrolle der Schiffsladungen gehörte. Dank dieses Agreements wurden bislang 33 Millionen Tonnen Getreide und Lebensmittel in 45 Staaten exportiert. Hauptempfänger waren China, Spanien und die Türkei. Laut Weltbank gingen 44 Prozent in reichere Länder, nur drei Prozent in ärmere und 725.000 Tonnen an das UN-Welternährungsprogramm.

Die Black Sea Grain Initiative komplettierte ein Memorandum zwischen der UNO und Russland, über das in westlichen Medien wenig bis gar nicht berichtet wird. Darin sagte die Weltorganisation zu, sich für die Aufhebung der Hürden einzusetzen, die russische Getreide- und Düngemittelexporte erschweren. Dass dieses Versprechen bislang nicht erfüllt worden ist, führt Moskau als Grund für seine Weigerung an, das Abkommen zu verlängern. Sein Agrarhandel mit dem Ausland würde durch die westlichen Sanktionen behindert. Nun fallen russische Lebensmittel- und Düngemittelexporte zwar nicht direkt darunter, doch stellen die Finanzsanktionen ein Hindernis für Zahlungen, Logistik und Versicherungen dar. Darum forderte Moskau, die staatliche Landwirtschaftsbank von den Sanktionen zu befreien. Dafür wäre das Votum aller EU-Staaten nötig, an dem es bisher hapert. Den EU-Vorschlag, eine Tochtergesellschaft der Rosselchosbank zu gründen und diese in das internationale Kommunikationsnetzwerk SWIFT aufzunehmen, lehnt Moskau als unpraktikabel ab. Zudem wird seit Monaten verlangt, die von der Ukraine deaktivierte Ammoniak-Pipeline aus dem russischen Togliatti nach Odessa wieder in Betrieb zu nehmen, damit der Weltmarkt bedient werden kann.

Russland geht es um dreierlei: Es will die Ukraine für den jüngsten Drohnenangriff auf die Brücke von Kertsch bestrafen. Präsident Putin sprach danach von „Vergeltung“, wozu man wohl die Luftangriffe auf ukrainische Hafenstädte rechnen muss. Dann soll Kiew finanziell geschädigt werden, da es die Einnahmen aus dem Getreideexport dringend braucht. Zwar geht ein geringerer Teil dieses Transfers per Schiff, Zug und Lkw westwärts, aber Polen und andere EU-Länder in Osteuropa haben nach massiven Protesten der eigenen Agrarlobby einen Importstopp für ukrainisches Getreide verhängt und erlauben allein den Transit. Schließlich will Moskau die westliche Sanktionsfront aufbrechen und – falls dies nicht gelingt – den Westen für die Folgen verantwortlich machen. Ob dieses Kalkül aufgeht, ist fraglich. Die USA haben Kiew bereits ein humanitäres und landwirtschaftliches Unterstützungspaket von 750 Millionen Dollar zugesichert. Auch muss sich noch erweisen, ob afrikanische Staaten, die dringend auf bezahlbares Getreide angewiesen sind, das russische Vorgehen goutieren.

Himmelfahrtskommando

War der Getreidedeal einer der wenigen diplomatischen Erfolge seit Kriegsbeginn, ist er nun Opfer des Krieges geworden. Russland hat angekündigt, das es die Sicherheit von Schiffen, die ukrainische Häfen ansteuern, nicht mehr garantieren könne. Die Forderung von Wolodymyr Selenskyj, die Getreideexporte ohne russische Zustimmung unter westlichem Begleitschutz abzuwickeln, ist äußerst heikel. Darum haben die USA sie vernünftigerweise abgelehnt. Als ob das Risiko eines direkten Zusammenstoßes mit Russland in der Schwarzmeerregion nicht ohnehin groß genug wäre. Auch der ventilierte Gedanke, dass neutrale Staaten mit guten Beziehungen zu Moskau diese Aufgabe übernehmen könnten, ist vollkommen unrealistisch. Erstens müsste die Türkei, die nach der Konvention von Montreux die Durchfahrt durch den Bosporus kontrolliert, die von ihr verfügte Sperrung für Kriegsschiffe aufheben. Zweitens müssten sich erst einmal Länder finden, die ein solches Himmelfahrtskommando auf sich nehmen.

Da beides nicht zu erwarten ist, spiegelt Kiew die Drohungen Moskaus, indem es seinerseits verkündet, alle Schiffe, die russische oder russisch besetzte Schwarzmeerhäfen anlaufen, als militärische Ziele anzusehen. Damit dreht sich nicht nur die Eskalationsspirale, sondern steigen auch die Getreidepreise weiter und gefährden die Versorgung des Globalen Südens. Laut Weltbank treibt nur ein Preisschub von einem Prozent bei Getreide zusätzlich zehn Millionen Menschen in existenzielle Not, die allerdings vermieden werden könnte. Dazu reicht die Bereitschaft des Westens, sein Sanktionsregime ein wenig zu lockern. Angesichts der drohenden Nahrungsmittelkrise und einer militärischen High-Noon-Situation im Schwarzen Meer wäre das eine vernünftige Option.

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