Es sind über 29 Millionen Menschen, die sich in Afghanistan nach Angaben der Vereinten Nationen im November 2023 in akuter Not befinden. Es fehlt an Grundvoraussetzungen, um zu überleben, sodass externe humanitäre Hilfe unerlässlich bleibt. Anzunehmen ist, dass sich die Verhältnisse weiter verschlechtern, wenn Hunderttausende Afghanen aus Pakistan gezwungenermaßen zurückkehren. Die Regierung in Islamabad hatte eine Frist bis zum 1. November gesetzt und 1,7 Millionen Menschen ohne Aufenthaltsstatus zum Verlassen des Landes aufgefordert. Wer nicht freiwillig gehe, werde abgeschoben. Umso mehr sind finanzielle Mittel gefragt, die der Regierung in Kabul auch deshalb fehlen, weil nach wie vor Guthaben der Afghanischen Notenbank (DAB) blockiert sind.
Als die Tal
ls die Taliban im August 2021 das Land unter ihre Kontrolle brachten, hatte die gestürzte Administration des Präsidenten Aschraf Ghani Devisenreserven von knapp zehn Milliarden Dollar an Bankguthaben angehäuft. Davon waren gut sieben Milliarden – vermutlich nicht durch eine souveräne Entscheidung in Kabul – bei der US-Zentralbank geparkt. Als klar war, dass sich der Machtwechsel nicht mehr umkehren ließ, sperrte die Biden-Regierung das für afghanische Verhältnisse stattliche Depot. Dass in Afghanistan bald darauf eine Hungersnot ausbrach, die man durch diese Devisen hätte lindern können, führte nicht dazu, dass Washington seine Haltung änderte. Stattdessen gab es eine multinationale Geberkonferenz, um Notmittel aus den Budgets anderer Staaten aufzutreiben. Zudem wuchs in den USA die Begehrlichkeit privater Interessenten angesichts dieses nun mutmaßlich herrenlosen Schatzes.Bald schon machten Angehörige von Opfern des 11. September 2001 Ansprüche auf Schadensersatz geltend. Begründung: Die Taliban hätten die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon seinerzeit unterstützt. Angesichts laufender Klagen vor Gericht verpflichtete sich die US-Regierung, mindestens die Hälfte der einbehaltenen sieben Milliarden zurückzuhalten. Sie gab die Erklärung ab, das afghanische Guthaben sei zwar für einen allfälligen Gebrauch nach humanitären Kriterien beschlagnahmt worden, jedoch nicht blockiert und nach dem Terrorism Risk Insurance Act (TRIA) für Zwecke des Schadensersatzes durchaus verfügbar. In der Konsequenz hieß das, für Afghanistan waren diese Ressourcen nun erst recht unerreichbar.Im Widerspruch zum VölkerrechtMan muss dazu wissen, gemäß dem Foreign Sovereign Immunities Act (FSIA) sind in den USA Bankguthaben anderer Staaten vor einer Beschlagnahme durch Gerichte geschützt, sofern es darum geht, Forderungen Privater gegen diese Staaten durchzusetzen. Freilich sind sie vor einer rechtlich ungebundenen Verfügung durch den US-Staat – an den Gerichten vorbei – nicht geschützt. Die Regierung Biden macht zudem geltend, dass sie die Taliban nicht als afghanische Regierung anerkenne. Das bedeute, von den Taliban beherrschte Institutionen wie die dortige Notenbank DAB seien für die USA – da Institute des afghanischen Staates – ebenfalls nicht legitimiert.Nur ändert das nichts an der Tatsache, dass die Regierung in Kabul zweifelsfrei herrscht und in den Vereinten Nationen den Staat Afghanistan vertritt. Geht es um die Legitimität von Regierungen, können Dritte wie die USA diese sicher verneinen, wie das zuletzt gegenüber Venezuela passierte, völkerrechtlich jedoch ist das unerheblich. Das Prinzip der UNO besteht darin, Zweifel hinsichtlich der Legitimität errungener Macht von der Frage zu trennen, ob Staaten und Regierungen legitim sind.Aus bisher nicht näher erklärten Gründen zieht die US-Regierung nun den Schluss, US-Gerichte hätten zu entscheiden, ob die afghanischen Guthaben den Taliban zur Verfügung stehen oder genutzt werden dürfen, um die Ansprüche privater Dritter zu befriedigen – demzufolge hätten die Vorgaben des Foreign Sovereign Immunities Act dahinter zurückzustehen. Eine Position, die nicht nur im Widerspruch zum Völkerrecht steht, sondern an den Haaren herbeigezogen ist. Die Argumentation vom rechtlichen Klärungsbedarf dient nur einem Zweck: Es soll weiter Zeit verstreichen, um die Verfügungsmacht über fremde Gelder zu erhalten.Nicht unterschätzt werden sollte das Signal, welches die US-Regierung mit dieser Quasi-Konfiszierung von Staatsvermögen der Welt zukommen lässt: Eure Zentralbankmittel sind bei uns nicht sicher und durch den Foreign Sovereign Immunities Act nicht mehr geschützt, jedenfalls nicht unter einem Präsidenten Joe Biden. Russland hatte dies frühzeitig verstanden und seine Devisenreserven in den USA vor dem Angriff auf die Ukraine deutlich heruntergefahren. Dass aber EU-Banken bzw. -Staaten in der gleichen rechtlichen Willkür verfahren, damit hatte man in Moskau offenbar nicht gerechnet. Die Folge: Der bei Weitem größte Teil konfiszierter russischer Guthaben ist in EU-Ländern deponiert – das meiste in Belgien, dem Sitz der Clearinggesellschaft Euroclear.US-Regierung deponiert afghanisches Vermögen in der SchweizAllerdings hat sich die Biden-Regierung mit ihren bisherigen Entscheidungen zum afghanischen Guthaben auf unsicheres Terrain begeben. Wer will schon sicher wissen, ob Gerichte in den USA den aus der Luft gegriffenen Beschluss, lediglich die Hälfte dieser Gelder gegebenenfalls 9/11-Geschädigten zu überantworten, auch anerkennen? Das birgt Risiken. Um dies zu umgehen, kam es nun zu einer bemerkenswerten Sicherungsmaßnahme. Die US-Regierung hat die nicht für eventuelle Entschädigungen vorgesehenen 3,5 Milliarden Dollar ins Ausland verbracht und in die Schweiz überwiesen. Wozu doch diese viel gescholtene „Finanzfestung“ gut ist, die nicht zuletzt von Oligarchen aus Osteuropa viel und gern genutzt wird.Das Depot nennt sich nunmehr „Afghan Trust“. Dessen Statut besagt, er solle „Vermögenswerte zum Wohle des afghanischen Volkes schützen, bewahren und auszahlen“. Die Taliban-geführte Regierung in Kabul hat bei eventuellen Ausgabeentscheidungen nichts zu sagen. Erklärtes Ziel ist es, die Devisen „out of the hands of the Taliban“ zu halten. Das heißt, der „Afghan Trust“ ist nicht nur Verwalter dieses Geldes, mit ihm sollen zugleich irreversible Ausgabenentscheidungen verbunden sein. Diese können sowohl auf das Abtragen von Schulden Afghanistans bei internationalen Finanzinstituten zielen, aber auch dazu führen, Rechnungen für Hilfsgüter zu begleichen, die nach dem jüngsten Erdbeben im Raum Herat dringend benötigt werden. Noch willkürlicher als in dieser Weise von den USA demonstriert, kann man kaum mit dem Souveränitätsrecht von Staaten umgehen, wie es in Artikel 2 der UN-Charta verankert ist.Zwar betont das State Department, nicht verwendete Mittel des Depots würden am Ende der Afghanischen Notenbank DAB zur Verfügung gestellt, doch ist diese Ankündigung an Bedingungen gebunden, wie sie die US-Regierung festgelegt hat. So müsse die Bank in Kabul „ihre Unabhängigkeit von politischer Einflussnahme“ nachweisen – sprich: ihre Unabhängigkeit von den Taliban. Des Weiteren müsse sie angemessene Schutzmechanismen gegen Geldwäsche und eine mögliche Terror-Finanzierung vorweisen. In ihren Führungsgremien sollte ein „Beobachter“ aus einem Drittstaat Platz nehmen. Da verwundert es nicht, wenn eine im Juli 2023 von der US-Regierung veranlasste Bewertung der DAB zu dem Schluss kam: Das beschlagnahmte Depot könne vorerst nicht seinem früheren Eigentümer übertragen werden.