Flaschensammeln ist gefährlich: Glassplitter, Viren und Revierkämpfe

#IchbinArmutsbetroffen Früher musste unsere Autorin Flaschen sammeln, deshalb versteht sie die gute Nachricht vom 1. Januar: Das Pfandsystem wird auf Milchflaschen ausgeweitet! Wer zynisch denkt, sieht darin die beste sozialpolitische Maßnahme seit Jahren
Gesammelt werden nicht nur leere Flaschen, sondern auch tote Nacktschnecken, Zigarettenstummel und Ameisen
Gesammelt werden nicht nur leere Flaschen, sondern auch tote Nacktschnecken, Zigarettenstummel und Ameisen

Foto: Roland Hartig/Imago

Gleich zwei gute Nachrichten gibt es für Armutsbetroffene im neuen Jahr. Die erste kennen Sie alle: Das Bürgergeld wurde endlich erhöht, also ein wenig an die Inflation angepasst. Die zweite werden die meisten von Ihnen nicht gleich verstehen: es ist die Ausweitung des Pfandsystems auf Einwegflaschen mit Milch und Milchmixgetränke. Auch Energy-Drinks mit hohem Molkeanteil bekommen eine Pfandkennzeichnung. Ich habe mich sehr gefreut, als ich von dieser Veränderung hörte! Für die Umwelt, denken Sie sich? Ja, natürlich auch für die Umwelt. Aber am allermeisten für all die Menschen, die in Deutschland auf das Pfandsammeln angewiesen sind: Ihre Einnahmen werden steigen, um 25 Cent pro gesammelter Milchflasche.

1998 habe ich auch Pfandflaschen gesammelt. Ich hatte noch nicht das Glück, dass es die 25-Cent-Einwegflaschen gab, sondern ich habe 8-Pfennig-Bierglasflaschen und Brauseflaschen gesammelt. Wie soll sich das lohnen?, höre ich Sie fragen. Aber ja, diese acht Pfennig waren damals für mich sehr wichtig, denn mit zwei Bierflaschen konnte ich mir im Discounter ein Brötchen für 10 Pfennig holen.

Glassplitter, Viren, Revierkämpfe: Flaschensammeln ist gefährlich

Dass sich ein paar Cent lohnen, das sehen Sie ja auf den Straßen: Sie kennen sie alle, die Pfandsammler, die mit großen Plastiktaschen oder Leinenbeuteln die Mülltonnen im öffentlichen Raum durchsuchen, um Flaschen zu sammeln und diese zu Geld zu machen. Ob auf den Bahnsteigen oder in Einkaufsstraßen, die Pfandsammler/innen gehören mittlerweile zum Stadtbild dazu. Manche sind ausgerüstet mit Arbeitshandschuhen, Gummihandschuhen und Taschenlampen, damit sie nicht im Dunkeln suchen müssen. Doch egal, wie gut die Ausrüstung ist: Das Wühlen im Müll ist nicht nur unappetitlich, sondern auch gefährlich, man stößt auf Glassplitter, scharfe Gegenstände und Taschentücher voll mit Viren. Hinzu kommen die Stigmatisierung durch Außenstehende und Kämpfe um einen Sammelbereich, den Menschen als ihr „Revier“ ansehen.

Wie es zu dem Job des Pfandsammlers kommt? Als ich Flaschen sammelte, war ich Schülerin und habe gleichzeitig Geld vom Amt bekommen. Die Miete habe ich von meinem damaligen Kindergeld gezahlt. Ich habe immer darauf geachtet, dass der Wohnraum, in dem ich wohnte, im Bereich der Kindergeldsumme war, denn beim Kindergeld war ich mir sicher, dass es immer auf mein Konto überwiesen wurde. Transferleistungen waren hingegen ein Risiko für mich, je nach Fallbearbeiter dauerte es bis zu 3 Monaten, bis ich Geld bekam. Zum Glück war also meine Miete schon gedeckt, sodass keine Obdachlosigkeit im Raum stand.

Ich hatte von vorheriger Arbeit eine Rücklage von 150 Mark. Wie Sie sich sicher vorstellen können, ist das für 3 Monate ausbleibendes Geld vom Amt viel zu wenig. In meiner Not habe ich Geld geliehen, immer mit schlechtem Gewissen und wirklich nur dann, wenn ich mir durch Pfandsammeln nicht genug zu Essen kaufen konnte. In der Zeit habe ich oft auf Mahlzeiten verzichtet. Zum ersten Mal sah ich meine Essstörung als Vorteil.

Tote Nacktschnecken, Biergestank und Zigarettenstummel

Nach der Schule habe ich also Bierflaschen gesammelt: Wenn niemand mehr auf dem Gelände mehr war, habe ich Mülleimer durchgeschaut nach Pfand. Bin dann die Spazierwege in die Innenstadt abgelaufen, den Durchgangsweg unseres Schleswiger Staatsforstes entlang, um in Gras, an Wegrändern und in den Büschen nach Flaschen zu suchen. Es gab damals schon Menschen, die achtlos ihren Müll in die Umwelt schmissen.

Pfandsammeln ist ein nicht ungefährliches Unterfangen, wenn man Bierflaschen an Bahngleisabhängen, nahe Wassergräben oder aus Brombeergestrüpp holt. Mir war diese Tätigkeit natürlich unangenehm, die Blicke der vorbeigehenden Passanten und das Abgeben der Flaschen im Supermarkt. Mich haben bestimmt viele der Mitarbeiter für eine Alkoholikerin gehalten, weil ich so oft mit Bierflaschen ankam. Je nach Saison waren es bis zu drei große Leinenbeutel voll. Um dem Stigma der alkoholkonsumierenden Armen aus dem Weg zu gehen, habe ich immer in verschiedenen Supermärkten abgegeben, am liebsten da, wo ich meinem Beutel nicht einem Mitarbeiter in die Hand drücken musste, sondern es Automaten gab. Zum größten Teil war es einfach eklig, nicht nur der Geruch nach altem Bier, die getränkten Leinenbeutel oder Rucksäcke, sondern die toten Nacktschnecken aus den Flaschen, zusammen mit darin schwimmenden Zigarettenstummeln (kam ziemlich oft vor) und Ameisen, die ziemlich lästig waren.

Aufgehört habe ich mit dem Flaschensammeln aber erst dann, als mir zwei alkoholisierte Männer Prügel angedroht haben, weil ich in ihrem Revier sammele. Ich hatte zu viel Angst.

Die beste Rentenerhöhung: 25 Cent pro Flasche?

Heute muss ich zum Glück nicht mehr Flaschen sammeln, aber es gibt genug Menschen, deren einzige legale Einkommensquelle das Flaschensammeln ist. Für jeden im Grundsicherungsbezug ist die Summe, die man vom Pfandsammeln verdient, eigentlich als Einkommen beim Sozialamt zu melden. Diese Einkommen werden dann dem aktuellen Grundsicherungssatz angerechnet. Es kann also Sozialbetrug sein, Flaschen zu sammeln, und dies nicht dem Amt zu melden.

Heute ist die Frequenz, mit der ein Mülleimer durchsucht wird, kürzer geworden. Die Klientel sind nicht nur Armutsrentner/innen, Obdachlose, Asylbewerber und Suchtkranke. Gut 900.000 Menschen in Deutschland sammeln Pfand.

Jetzt verstehen Sie, warum ich mich über die Erweiterung des Pfandsystems freue. Manchmal denke ich: Vielleicht hat die Regierung mit der Einführung des Pfands auf Einwegflaschen mehr für die Armutsrenter/innen getan hat, als durch die kleinen Rentenerhöhungen. Aber ich möchte nicht zynisch ins neue Jahr starten. Ich warte also optimistisch auf weitere Verbesserungen für uns Armutsbetroffene.

#Armutsbetroffen

Janina Lütt lebt mit ihrem Kind in Elmshorn. Auf freitag.de schreibt sie eine regelmäßige Kolumne über den Kampf mit und gegen Armut

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Geschrieben von

Janina Lütt

Kolumnistin

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

Janina Lütt

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