„Was, Sie sind depressiv? Selbst schuld! Arbeiten Sie gefälligst!“

Kolumne Täglich muss sich unsere Autorin im Netz anhören, warum sie an ihrer Armut selbst schuld sei: Sie solle günstiger einkaufen, Leitungswasser trinken, arbeiten gehen. Dabei hat sie gute Gründe, nicht arbeiten zu können
Psychische Erkrankungen sind führend bei den Ursachen für Erwerbsminderungsrente in Deutschland
Psychische Erkrankungen sind führend bei den Ursachen für Erwerbsminderungsrente in Deutschland

Foto: Julian Stratenschulte/picture alliance/dpa

Stellen Sie sich vor, ein Fremder kommt in ihre Wohnung, sieht sich um und sagt zu Ihnen: „Also Sie müssen hier unbedingt aufräumen, der Zustand der Wohnung geht ja gar nicht!“ Dann inspiziert er Ihre Vorräte. „Diese teuren Lebensmittel leisten Sie sich, das ist ja kein Wunder, dass Sie kein Geld haben.“ Und dann: „Sie trinken Wasser aus Flaschen? Leitungswasser muss genügen, Flaschenwasser ist zu teuer, Sie sollten als Armutsbetroffene sparen, wo Sie können!“

Der übergriffige Klassismus von Menschen, die nicht armutsbetroffen sind, ist permanent präsent. Kritisiert werden alle sichtbaren Äußerlichkeiten wie Kleidung, Wohnung, Kaufverhalten und Familiengröße. Der Leistungsgedanke ist bei einigen Menschen so verinnerlicht, dass Menschen, die nicht arbeiten können, für diese ein absolutes Mysterium sind. Da muss es doch eine Schuld geben! Sie schauen genauer hin, suchen nach Gründen, warum Armutsbetroffene selbst schuld sind. Durchleuchten die Vorratskammern. Besonders bei psychischen Erkrankungen als Ursache für Erwerbslosigkeit oder Erwerbsminderungsrente treffen zwei Diskriminierungsformen aufeinander: Klassismus und Ableismus.

Ableismus bezieht sich auf die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen oder eingeschränkten Fähigkeiten. Psychische Erkrankungen schränken das Leben ein, je nach Erkrankung und Schweregrad. Dank Prominenten wie dem Fußballer Robert Enke oder den Komikern Thorsten Sträter und Kurt Krömer ist die Erkrankungsform Depression nicht mehr so tabuisiert wie von einigen Jahren. Über Armut als eine Folge solcher Erkrankungen ist das Sprechen jedoch noch immer ein Tabu.

Psychische Erkrankungen sind führend bei den Ursachen für Erwerbsminderungsrente in Deutschland. Die Statistik der Rentenversicherung meldet Rentenzugänge in der Erwerbsminderung aufgrund folgender Diagnosen: psychische Erkrankungen 42,5 Prozent, Neubildungen/Krebs 14,6 Prozent, Skeletterkrankungen, 11,1 Prozent, Herz-Kreislauf-Erkrankungen 9,2 Prozent und Stoffwechselstörungen 3,9 Prozent. Fast jeder Zweite, der wegen verminderter Erwerbstätigkeit vorzeitig in Rente geht, tut dies aufgrund einer psychischen Erkrankung.

Seit ich 23 Jahre alt bin, kann ich wegen der Depression nicht mehr arbeiten

Ich beziehe Rente bei voller Erwerbsminderung, das bedeutet, ich bin unter drei Stunden täglich belastbar oder arbeitsfähig. Ich habe einen Symptomkomplex aus verschiedenen psychischen Erkrankungen, die sich gegenseitig beeinflussen und mich beeinträchtigen. Da man mir diese Erkrankungen nicht ansieht, werde ich oft mit Vorurteilen konfrontiert: Ich sähe doch gesund aus, da müsste Arbeit möglich sein, ich mache Armutsaktivismus, dann könnte ich doch stattdessen „richtig arbeiten“ (was auch immer damit gemeint ist).

Meine Depression wird mir regelmäßig von Außenstehenden ohne medizinischen Hintergrund abgesprochen oder infrage gestellt: Ich würde meine Krankheit benutzen, um mich vor der Arbeit und/oder der Lebensverantwortung zu drücken. Ich würde mich mit meiner Krankheit „rausreden“, denn ich sei ja in Wirklichkeit „faul“ und nicht „Willens zu arbeiten“. Ich würde mich auf meinen Erkrankungen ausruhen (wie geht das?), oder mich hinter ihnen verstecken (und wie geht das?). Oder es wird behauptet, dass heutzutage psychische Erkrankungen „Modediagnosen“ seien, die als Ausrede genutzt werden, damit man den Sozialstaat ausnutzen kann. Solche Aussagen sind an Menschenfeindlichkeit nicht zu überbieten und Gift für das gesellschaftliche Zusammenleben.

Fakt ist, dass ich seit meiner Kindheit an Depressionen leide, die sich je nach Lebensphase verschlimmert oder verbessert haben. Mit 23 Jahren wurde es so schlimm, dass ich nicht mehr arbeitsfähig war. Ich habe viele Therapien gemacht, hatte Klinikaufenthalte und versuchte, so gut es geht, wieder gesund zu werden. Es hat sich herausgestellt, dass meine Depression nicht heilbar ist und mich mein ganzes Leben begleiten wird.

Umso ekelhafter finde ich es, wenn Menschen meinen, sich übergriffig über meine Erkrankung äußern zu müssen. Auch diesbezüglich bekomme ich viele ungebetene Tipps: Arbeit würde meine Depression mildern oder sogar heilen. Je nach Depressionsform ist es durchaus möglich, auf dem Arbeitsmarkt zu funktionieren, ich weiß auch von einigen depressionsbetroffenen Freunden, die arbeiten, dass die Arbeit sie ablenkt – auch wenn sie die Problemursachen nicht beseitigt. Ich freue mich für jede/n Depressiven, der oder die stark und stabil genug ist, arbeiten zu können.

Psychische Erkrankungen wirken sich individuell aus, sodass jeder Mensch mit Erkrankung einzeln zu diagnostizieren ist – und zwar von Ärzten, Psychiatern, Psychologen und Gutachtern, die sich mit diesen Erkrankungsformen auskennen. Und nicht von fremden Menschen im Internet.

Liebe Menschen da draußen, wir werden uns damit abfinden müssen, dass einige von uns nicht leistungsfähig sind, und trotzdem zu unserer Gesellschaft gehören, wie alle anderen auch. Halten wir das aus?

#Armutsbetroffen

Janina Lütt lebt mit ihrem Kind in Elmshorn. Auf freitag.de schreibt sie eine regelmäßige Kolumne über den Kampf mit und gegen Armut

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Geschrieben von

Janina Lütt

Kolumnistin

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

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