Bloß nicht hinterfragen

Ukraine-Krieg Deutschland müsse die Ukraine unterstützen, koste es, was es wolle – dieses Kalkül hat sich durchgesetzt, obwohl es jeglicher Logik entbehrt
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 29/2022
Ein Sieg der Ukraine: Nur noch eine Illusion?
Ein Sieg der Ukraine: Nur noch eine Illusion?

Foto: Miguel Medina/ AFP via Getty Images

Mit der Zeitenwende, die wir erleben, ist der Patriotismus zurückgekommen. Jedenfalls der ukrainische. Viele Deutsche bewundern die Ukrainer für ihre Tapferkeit und fragen sich – wie zum Beispiel der Verfassungsrechtler und frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio – ein wenig verzagt: „Sind wir als große Demokratie, die schon lange in Freiheit, Frieden und Wohlstand lebt, noch in der Lage, in Selbstbehauptungskategorien zu denken?“ Wenn man sich die deutsche Politik der vergangenen Monate ansieht, ist die Antwort mindestens zweifelhaft.

Würde die deutsche Politik in den von Di Fabio vorgeschlagenen „Selbstbehauptungskategorien“ denken, müsste sie alles dafür tun, dass – in dieser Reihenfolge – erstens das russische Gas so lange wieder fließt, bis wir uns aus unserer einseitigen Abhängigkeit gelöst haben, dass zweitens dieser Krieg schnell endet und dass drittens die Beziehungen zu Russland geheilt werden. Die Politik tut jeweils das Gegenteil.

Der Historiker Christopher Clark hat für die Verantwortlichen des Ersten Weltkriegs das eingängige Bild der Schlafwandler geprägt. Diese Entschuldigung, gleichsam somnambul in die Katastrophe gestolpert zu sein, haben unsere Politiker nicht. Sie sind sehenden Auges hineingestürmt. Alle Warnungen, dass NATO- und EU-Mitgliedschaft der Ukraine, mithin ihre Verwestlichung, mit russischen Sicherheitsinteressen nicht vereinbar seien, wurden im Laufe der Jahre ignoriert. Man hat sich die Russen zum Feind gemacht und sich dennoch nicht aus der Abhängigkeit vom russischen Gas gelöst. Das daraus resultierende Dilemma ist nicht mehr auflösbar.

Kein Politikerschicksal macht das deutlicher als das des inzwischen beinahe tragischen grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck, der im Wattenmeer inzwischen auf jeden Umweltschutz pfeift, um US-amerikanisches Fracking-Gas schneller nach Deutschland zu bekommen, und in Katar um Gaslieferungen bettelt, einem Land, in dem die Menschenrechte tatsächlich noch weniger gelten als in Russland. Aber weil das alles nicht reichen wird, den selbst verschuldeten Ausfall der russischen Lieferungen zu ersetzen, hat Habeck für die Deutschen noch den Tipp, im Winter die Heizung runterzudrehen und kürzer zu duschen.

Wir haben den absoluten Primat des militärischen Denkens übernommen

Dabei geht es um viel mehr als die Bequemlichkeit einer angeblich verweichlichten westlichen Gesellschaft. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat gewarnt, dass in Folge eines Gasmangels Millionen Arbeitsplätze verloren gehen könnten. „Wenn diese Industriearbeitsplätze einmal weg sind, kommen sie nie wieder“, hat die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi gesagt: „Dann gehen wir an die Wurzeln unserer Volkswirtschaft.“ Es ist fraglich, ob sich die Erkenntnis dieses wahren Einsatzes, der für Deutschland auf dem Spiel steht, bei allen Menschen wirklich schon durchgesetzt hat. Ein Winter ohne warmes Hallenbad, dieses Opfer mögen die Deutschen ihrem neuen „Brudervolk“ (Wladimir Klitschko) vielleicht noch gerne bringen. Aber die Zerrüttung zunächst ihrer wirtschaftlichen und dann zweifellos ihrer sozialen Verhältnisse? Das ist viel verlangt für die Unterstützung eines Krieges, den zwei eng miteinander verwandte Völker in der Weite der östlichen Peripherie Europas miteinander führen.

Politiker und Publizisten, die sich dagegen aussprechen, den Krieg mit Russland so schnell wie möglich zu beenden, müssten erklären, wie sie dieses Risiko für Deutschland ausschließen wollen. Sie können es nicht. Sie haben sich stattdessen für ein anderes, ein soldatisches Kalkül entschieden – und für die entsprechende Sprache. Beispielhaft dafür hat vor einigen Tagen eine Reihe von ausgebildeten Militärs und Strategie-Professoren in der FAZ einen Artikel veröffentlicht, der davor warnt, „in Defätismus zu verfallen und zu glauben, mit einer übereilten ‚diplomatischen Lösung‘ könnte man Frieden schaffen“. Das wesentliche Argument, das auch hinter der deutschen und der westlichen Politik steckt, findet sich hier: „Der Angriff Russlands zeigt, dass auch Mitglieder der NATO Objekt einer militärischen Aggression werden können.“

Diese Interpretation der Ereignisse hat sich durchgesetzt, ist handlungsleitend geworden, wird nicht mehr hinterfragt – und darf auch nicht mehr hinterfragt werden, will man sich nicht den schlimmsten Vorwürfen aussetzen. Allein, die Logik gibt es nicht her. Es ist schlicht nicht ersichtlich, warum der Angriff auf einen Staat, der nicht der NATO angehört, einen Angriff auf Staaten, die der NATO angehören, wahrscheinlicher macht. Ebenso wenig ist ersichtlich, warum man die Ukraine, die nicht Mitglied der NATO ist, verteidigen muss, um glaubhaft zu machen, dass man die Staaten des Baltikums, die Mitglied der NATO sind, verteidigen würde. Abgesehen davon, dass der Satz ohnehin Unfug ist: Hätten die Mitglieder der NATO jede gegen sie gerichtete militärische Aggression in der Vergangenheit ausgeschlossen, hätte es der NATO nie bedurft.

In dem Maße aber, in dem „wir“ uns mit der Ukraine identifiziert haben, haben wir auch den absoluten Primat des militärischen Denkens übernommen. Für die Ukraine, ein Land im Krieg, mag dieses Denken sinnvoll sein. Aber Deutschland ist nicht die Ukraine und ihr Krieg ist nicht unser Krieg.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden