Der Saal wird dunkel, die Gemeinde hebt den Blick. Dann erscheint das Gesicht, riesengroß auf einer Leinwand, die über der Bühne hängt, freundlich, unwahrscheinlich jung, immer noch ein bisschen schüchtern: Edward Snowden, der digitale Messias, der uns die Wahrheit gebracht und sich dabei für uns geopfert hat. Er musste – ausgerechnet – in Russland Schutz suchen. Seither kann er nur als Abbild bei uns sein. Snowdens Auftritte werden dadurch zu Erscheinungen. Unweigerlich erhalten sie etwas Sakrales. Pathos? Und wie! Aber eben auch Realität. Snowden ist der Dissident des westlichen, digitalen Kapitalismus.
Was wissen wir dank Snowden?
Die NSA überwacht alle Telefone in den USA. Und sie hört weltweit mit, auch in Deutschland, ganz gleich, ob es sich um Unternehmen handelt oder Politiker.
Die NSA hat Zugang zu den Datenbanken der großen Internet-Konzerne wie Google, Facebook, Apple, Microsoft, Yahoo.
Die NSA greift direkt auf die physische Infrastruktur des Netzes zurück, auf die Glasfaserkabel und Knotenpunkte, die das eigentliche Netz ausmachen.
Die NSA hat ihre eigenen Datenschutzregeln tausendfach verletzt. Mitarbeiter haben ihre technischen Möglichkeiten etwa für private Sexgeschichten missbraucht.
Das wissen wir nun also. Snowden hat vieles aufgegeben, um uns diese Wahrheit zu überbringen. Aber was fangen wir damit an? Wenn es um Snowden geht, kochen die Sicherheitsbehörden immer noch vor Zorn. Weil er die Arbeit erschwert? Oder weil er ihre dunkle Seite ans Licht zerrt?
snowden als video-gast
Am 22. September war Snowden als Video-Gast in der Berliner Volksbühne zu erleben. Auf dem Podium saßen die Regisseurin Angela Richter und der Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck. Von ihnen wurde auch das Gespräch mit Edward Snowden initiiert und durch persönliche Treffen in Moskau vorbereitet. Den Abend moderierte Freitag-Verleger Jakob Augstein.
Lesen Sie in unserem Wochenthema eine bearbeitete Fassung des Gesprächs
Staatstragender Zynismus
Die Kritiker Snowdens kommen staatstragend mit abgeklärtem Zynismus daher. Snowden sei kein Jesus, spottete die Welt am Sonntag, sondern ein Don Quijote. Weil die weltumspannende Überwachung längst eine Tatsache sei, an die sich alle gewöhnt und deren Zwangsläufigkeit alle stillschweigend akzeptiert hätten. Zumal vermutlich keiner in der andächtigen Gemeinde wegen Snowden sein digitales Verhalten merklich verändert haben dürfte: „Eine solche Demonstration für den Datenschutz ist im Grunde wie eine Anti-TTIP-Aktion mit lauter Menschen, die Chlorhühnchenschenkel in sich hineinstopfen.“
Diese Argumentation lässt sich immer gegen das reformistische Pathos anbringen. Der sinnfällige Vergleich wäre: Solange der gläubige Christ nach der Predigt rausgeht und weitersündigt, taugt seine ganze Religion nichts. Aber das verkennt die paradigmatische Bedeutung der Snowden-Enthüllungen. Sie haben die Art und Weise verändert, wie wir die Welt sehen. Und die Institutionen der westlichen Welt.
Kein Wunder, dass nicht jeder sich gefreut hat. Julian Reichelt, Chefredakteur von bild.de, schrieb nach den Veröffentlichungen: „Ja, wir wissen jetzt, wie umfassend die USA das Internet überwachen. Wir können das als Sieg unserer Bürgerrechte feiern. Aber wahr ist auch: Wir feiern mit den Falschen. Snowden ist auch ein Held für all jene, die in Berlin, Madrid, London Busse in die Luft sprengen wollen.“
Dabei geht es den Diensten in Wahrheit nicht um den Kampf gegen den Terror. Es geht um Macht. Die Geschichte der Anschläge vor und nach den Enthüllungen zeigt, dass das Maß an Überwachung kein Maß für die Sicherheit der Bevölkerung darstellt. Es besteht kein linearer Zusammenhang zwischen Kontrolldichte und Zahl der Anschläge. Es geht, Snowden hat das bei seinem Auftritt ausgeführt, um die Qualität der Sicherheitsvorsorge. Wer um die Sicherheit der Bevölkerung besorgt ist, sollte Geheimdienste und Polizei mit mehr menschlichem Personal ausstatten. Das anlasslose Durchsieben der elektronischen Kommunikation aller bringt unter Sicherheitsaspekten keine Vorteile.
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