Der jüngst im Gutleut Verlag Frankfurt/M. erschienene Sammelband „Grenzlinien. Von Grenzen, Grenzüberschreitungen und Migration“ gibt nicht nur einen kritischen Abriß der restriktiven EU-Zuwanderungspolitik des letzten Jahrzehnts und ihrer Umsetzung in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Er zeichnet auch den Weg der Flüchtlinge Richtung Europa nach, schildert anschaulich, auf welche Bedingungen die Migrantinnen und Migranten an den EU-Außengrenzen treffen, erzählt vom Warten in den Auffanglagern, so sie es geschafft haben, auf Lampedusa beispielsweise, dieser Mittelmeerinsel, die in letzter Zeit öfters in den Schlagzeilen gewesen ist. Während andere Orte des Wartens und sozialen Todes kaum in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Die bundesdeutschen Ausreisezentren etwa, eine Begrifflichkeit, die suggeriert, hier wollte jemand freiwillig das Land verlassen, indes es um den knallharten Fakt der Abschiebung Asylsuchender geht. Mehr oder weniger sichtbare Grenzlinien finden sich eben nicht allein an den Außengrenzen der EU, sondern auch in ihrem Innern. Hier leistet der Band Pionierarbeit, indem er den Alltag in den Lagern und Abschiebeeinrichtungen erfahrbar macht, deren Charakter als Warteraum wie unerschöpfliches Reservoir, das sicherstellt, dass dem schwarzen und grauen Arbeitsmarkt, der ethnisch segmentiert ist, die billigen Arbeitskräfte nicht ausgehen. (Tom Holert, S. 152)
Ursula Schmidt berichtet in einer Reportage über ihre Erlebnisse und die Atmosphäre auf Lampedusa, am Rande der Wahrnehmung, wo sie mit Flüchtlingen in Kontakt zu kommen versucht. Der Zutritt zum Auffanglager wird ihr aber verwehrt. Vor fünf Jahren, im Januar 2009, kurz vor Ankunft der Autorin, brachen hunderte Flüchtlinge aus dem Lager aus und zogen ins Dorf, um gegen die Zustände im Lager zu protestieren, viele der Einwohner sollten sich mit ihnen solidarisieren. Lampedusa, so ist zu erfahren, war früher lange Zeit eine Häftlingsinsel, und etliche der heutigen Bewohner sind Nachkommen der Verbannten. Thomas Küpper hält seine Beobachtungen und Gespräche vor Ort in einem Tagebuch fest, das er zwischen 2008 und 2010 geführt hat. Leider sind diese Passagen nur auf Englisch zu lesen. Den Tagebuchauszügen beigegeben sind Fotos, eines zeigt übereinandergeschichtet jene Boote, mit denen die Flüchtlinge anlandeten. Seit 2008 verfolgt der Autor das Projekt „Ein Leuchtturm für Lampedusa“, der den Flüchtlingen künftig den Weg übers Meer weisen soll.
Dieser Band ist nicht zuletzt als künstlerisches Unterfangen zu betrachten, neben den informellen Sachtexten und Essays, die auch die psycho-soziale Dimension von Migration und Grenzziehungen, der Grenzen als Ordnungen des Raums erfahrbar machen, und Portraits von MigrantInnen finden sich z.B. fotokünstlerische Arbeiten, Dokumentationen von Performances und Installationen, die sich aus anderer Perspektive der Thematik nähern. Und es geht auch um das Entwickeln von Projekten, die auf die Möglichkeit zielen, Grenzlinien aufzuheben.
Grenzlinien. Von Grenzen, Grenzüberschreitungen und Migration. Hrsg. von Christine Taxer und Raul Gschrey. Gutleut Verlag Frankfurt/M., 2013.
Kommentare 11
Hallo Jayne,
danke für die Buchempfehlung mit den verschiedenen Blickwinkeln und Aspekten. Ich bin immer ganz ratlos, wenn ich die Bilder sehe, wenn ich von Migrationsschicksalen lese und Berichte darüber höre. Dagegen sind tätiges Engagement - aber auch gute Informationen und Texte ein Mittel. Mir fehlen oft die Worte, wenn ich Berichte über Lampedusa sehe. Sie kommen mir billig vor und ich verdächtige mich eher des Selbstmitleids als wirklicher Empathie.
Gruß Magda
Danke für die Besprechung und dass Du Dich mal wieder hier zu Wort meldest, liebe Jayne.
Die Reportagen der aus Athen über den Mittelmeerraum berichtenden Journalistin Chrissie Wilkens zum Thema dürften Dich interessieren.
Die bundesdeutschen Ausreisezentren etwa, eine Begrifflichkeit, die suggeriert, hier wollte jemand freiwillig das Land verlassen, indes es um den knallharten Fakt der Abschiebung Asylsuchender geht.
liebe jayne,
danke. und schön, dass du dich wieder mal zu wort meldest.
danke besonders für das unwort der sprachregler "Ausreisezentrum". sowas sammle ich. die plumpe verlogenheit erinnert an "wortschöpfungen" wie schutzhaft oder protektorat.
wenn die flüchtlinge zu menschenströmen werden, verwandeln sie sich in naturgewalten, vor denen mensch sich fürchten soll.
grüße, hy
https://www.youtube.com/embed/GlTK2PLXAv8
Hallo Jayne, Danke für den Beitrag.
Hier ein Video über ein hochanerkennenswertes Projekt des Musikers Heinz Ratz, gemeinsam mit Musikern, die er in Asylbewerberheimen kennengelernt hat, auf Tournee geht. Das sind beeindruckende Konzerte. Das wichtigste daran: Man lernt Menschen kenne, keine Opfer. Ratz erzählt auf der Bühne viel von dem, was er von seinen Musikerkollegen erfahren oder selbst bei seinen unangemeldeten Besuchen in den Heimen erlebt hat. Der gute Mittelschicht-Linke fließt dann über vor Mitgefühl. Aber Ratz will mehr.
Auf der Projekt-Homepage befindet sich ein Text darüber, warum er eine von den Grünen vorgeschlagene Ehrung seines Projekts (Integrationsmedaille der Bundesregierung) nicht annnehmen wollte und dann doch angenommen hat...
Hallo jayne,
ich habe das auch mit sehr viel Aufmerksamkeit gelesen. Es ist eine spannende Buchempfehlung. Die Gefühle und Gedanken dazu sind bei mir so ähnlich wie bei Magda gelagert.
Viele Grüße
poor on ruhr
Hallo Jayne,
Danke auch von mir.
Liebe Grüße
Ismene
es gibt für mich in diesem verwaltungssprech etliche unwörter, z.b. spricht man da in bezug auf die in abschiebungshaft ausharrenden von "schüblingen"
danke für diesen tip, das hatte ich mir auch schon mal vor längerem angesehen, und mir ist es auch wichtig, dass sie nicht in die opferrolle gedrängt werden ...
danke für den tip, da wäre beispielsweise diese
Liebe Jayne,
vielen Dank für den Hinweis auf das Buch,
das es ganz sicher nicht in die Bestsellerlisten oder auf die Büchertische der großen Kaufhäuser schafft...
Das Thema wird trotzdem von Tag zu Tag wichtiger.
Herzliche Grüße
archie
Hallo Goedzak,
das Projekt ist super, vielen Dank für den Link!
LG
archie