Italien: Der Istrien-Aufstand von 1943 wird heute nationalistisch vereinnahmt
Zeitgeschichte Nach dem Sturz Mussolinis erklärt die italienische Regierung von Pietro Badoglio am 8. September 1943 einen Waffenstillstand gegenüber den Alliierten. Daraufhin marschiert die deutsche Wehrmacht ein und errichtet ein Schreckensregime
Italienische Soldaten stellen gefangene jugoslawische Partisanen zur Schau, Aufnahme um 1942.
Foto: Ullstein
Das Jubiläum ist zwar kein „rundes“ – es könnte aber zum wichtigsten geschichtspolitischen Thema des Jahres in Italien werden. Gestritten wird um Ereignisse ab September 1943 in Istrien, als die heute teils zu Slowenien, teils zu Kroatien gehörende Halbinsel Teil des faschistischen Italiens war. Nach Benito Mussolinis Sturz durch eine Palastrevolte am 25. Juli 1943 erklärte die italienische Übergangsregierung unter Marschall Pietro Badoglio am 8. September 1943 den einseitigen Waffenstillstand – für große Teile der überwiegend jugoslawischen Bevölkerung Istriens das Signal zum Aufstand gegen die faschistische Herrschaft. Hunderte starben, nicht nur Militärs, sondern auch viele Zivilisten. Der Befreiungsversuch endete
en. Der Befreiungsversuch endete, als deutsche Truppen die Region besetzten und mit den Aufständischen kurzen Prozess machten.„Titos Partisanen“ und „unschuldige Italiener“Für die heute in Italien regierenden Rechtsparteien, aber auch für viele Medien sind dennoch „Slawokommunisten“ – vorzugsweise „Titos Partisanen“ – die Täter, die Opfer dagegen einzig und allein unschuldige Italiener. Um ihrer zu gedenken, wurde vor 20 Jahren auf Betreiben von Silvio Berlusconis Regierungskoalition und mit Unterstützung von Teilen der christdemokratischen Mitte per Gesetz ein spezieller Gedenktag eingeführt: der „Tag der Erinnerung“. Das Datum, der 10. Februar, geht zurück auf den Tag, an dem 1947 in Paris der Friedensvertrag unterzeichnet wurde: Italien verlor einige Grenzgebiete, darunter auch Istrien, das an Jugoslawien fiel. Seit Kriegsende hatten Tausende Italienischstämmige Istrien und Dalmatien verlassen, nicht immer ganz freiwillig.Heute geht es den italienischen Rechten weniger um die Zurückgewinnung verloren gegangener „Heimat“ als um das höchst einseitige Gedenken an ausschließlich italienische Opfer. Die Chiffre, unter der diese Art der Geschichtspolitik betrieben wird, lautet „foibe“. Gemeint sind damit die teils sehr tiefen Karsthöhlen – die Foiben –, in die Hunderte Opfer der damaligen Kämpfe, teils noch lebend, geworfen wurden. Opfer beider Seiten, wie der Historiker Giacomo Scotti hervorhebt. Sein erstmals 2005 erschienenes Dossier Foibe wurde 2022 neu herausgegeben – ein Standardwerk zumindest für Leser, die sich ein differenziertes Bild von den Geschehnissen im Jahr 1943 machen wollen.Dazu gehört die Rekonstruktion der Vorgeschichte. Schon vor Mussolinis Machtantritt Ende Oktober 1922 terrorisierten faschistische Sturmtrupps die nordöstliche Region mit ähnlich brutalen Methoden wie die Hochburgen der Arbeiterbewegung Nord- und Mittelitaliens. In Istrien allerdings kam zum Hass auf die „Roten“ ein rassistisches Überlegenheitsgefühl hinzu, angefacht vom Duce persönlich. In der Hafenstadt Pola, nahe der Südspitze Istriens, hatte Mussolini im September 1919 seine Gefolgsleute zum erbarmungslosen Kampf aufgerufen. „Gegenüber einer Rasse wie der slawischen, minderwertig und barbarisch, muss man nicht eine Politik des Zuckerbrots, sondern der Peitsche anwenden“, ließ er verlauten. Schließlich gehe es um Höheres: „Unser Imperialismus will die gerechten Grenzen, die von Gott und der Natur geschaffen wurden, erreichen und im Mittelmeer expandieren.“Todesstrafen für Antifaschisten in IstrienGemäß diesem Ziel agierte später der faschistische Staat. Die Mehrheit der Bevölkerung Istriens – etwa 58 Prozent waren kroatischer oder slowenischer Abstammung – wurde zur Assimilation gezwungen: Slawische Nachnamen wurden „italianisiert“ und Bauern enteignet. Neues Land durften sie nicht kaufen, und in der Armee blieb ihnen der Aufstieg aus den unteren Rängen verwehrt. Ein Sondertribunal verurteilte Antifaschisten zum Tode oder zu langen Haftstrafen. Unter der wachsenden Diskriminierung und Repression verließen allein zwischen 1940 und 1943 mindestens 60.000 Menschen die Halbinsel. Die meisten von ihnen flohen über die Grenze nach Jugoslawien.Seit Mussolinis Sturz und Verhaftung Ende Juli 1943 glaubten viele aus der slawischen Bevölkerungsgruppe an ein baldiges Ende des Krieges. Mit der Waffenstillstandserklärung am 8. September begann ein spontaner Aufstand. Daran beteiligt waren kommunistische, sozialistische und kroatisch-nationalistische Kräfte. Auch ohne eine zentrale Führung gingen sie in die Offensive. Waffen erhielten sie von etwa 8.000 Soldaten des Königlichen Italienischen Heeres. Im Gegenzug wurden diese von der einheimischen Bevölkerung mit Zivilkleidung und Lebensmitteln versorgt. Die Aufständischen besetzten Kasernen und Polizeistationen, entwaffneten die faschistische Miliz und bildeten Partisanengruppen. In diesen Verbänden waren bis zu 10.000 Menschen organisiert – „bereit, die deutschen Invasoren mit allen Ehren zu empfangen“, erinnerte sich später der Partisan Ottavio Paoletich.Es ging freilich nicht nur gegen den äußeren Feind. „Die Explosion des Hasses gegen den Faschismus“, schreibt Giacomo Scotti, „traf hohe Exponenten des Regimes“, aber gleichfalls Großgrundbesitzer und andere Privilegierte. Dabei kam es auch zu persönlichen Racheakten. Improvisierte Tribunale verhängten Todesurteile, die sofort vollstreckt wurden. In 570 belegten Fällen wurden Leichen oder Sterbende in die Karsthöhlen geworfen. Zur historischen Wahrheit gehört jedoch, dass diese grausame Methode des Verschwindenlassens politischer Gegner auf die Faschisten zurückging. Scotti zitiert in seinem Buch einen Augenzeugen, den damals jugendlichen Raffaello Camerini, der als Jude ab Juli 1940 Zwangsarbeit leisten musste: „Die Faschisten, Italiener, waren die Ersten, die die Foiben entdeckten, in denen sie ihre Gegner verschwinden ließen. Logischerweise rächten sich Titos Partisanen, indem sie dasselbe System anwandten.“ Scotti und andere Historiker verurteilen zwar zu Recht diese barbarische „Logik“. Sie bestehen allerdings darauf, die historischen Abläufe in ihrer Gesamtheit darzustellen.Anweisung von oben an Italiens SchulenDazu gehört auch die Tatsache, dass die spontane Revolte schon nach wenigen Tagen auf starken Widerstand stieß. Durch die massive Invasion deutscher Truppen wandelte sich das militärische Kräfteverhältnis. Der Rachebefehl kam von Generalfeldmarschall Erwin Rommel, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht in Norditalien: Die von ihm kommandierten Kräfte müssten „den slawokommunistischen Aufstand erbarmungslos und mit allen Mitteln zerschlagen“ und „alle erschießen, die Widerstand leisten, egal ob Slawen oder Italiener“. Nicht nur Soldaten der Wehrmacht, auch die SS-Leibstandarte Adolf Hitler, Polizei, Gestapo und Milizen der neu konstituierten faschistischen „Sozialrepublik“, insgesamt 50.000 Mann, machten sich umgehend daran, diesen Befehl auszuführen. Am 11. Oktober 1943 meldete die römische Zeitung Ultime Notizie, bei den „Befriedungsoperationen“ in Istrien seien in den vergangenen Tagen „5.216 Banditen“ getötet worden. Mehr als 10.000 Menschen, überwiegend unbewaffnete Zivilisten, wurden gefangen genommen und in deutsche Konzentrationslager, unter anderem nach Dachau, deportiert.Heute wollen die rechten Geschichtspolitiker davon nichts mehr wissen. Sie operieren stattdessen mit absurd überhöhten Zahlen ausschließlich italienischer Opfer „slawokommunistischer Gewalt“. Unter diesen, das konzediert Giacomo Scotti, seien zwar auch Unschuldige gewesen. Die Mehrzahl der von den Partisanen Hingerichteten indes sei wegen Verbrechen während der 20 Jahre des Faschismus verurteilt worden, unter ihnen nicht wenige kroatische Kollaborateure und Agenten, die für die deutsche Besatzungsmacht spionierten. Im staatsoffiziellen Gedenken rund um den diesjährigen 10. Februar soll für solche Differenzierungen kein Platz sein. Auch die Schulen werden in die Pflicht genommen, und zwar von höchster Stelle. Per Rundschreiben des Generalsekretariats von Regierungschefin Giorgia Meloni und des Innenministeriums wurden die Provinzen schon im Oktober angewiesen, mitzuteilen, welche „Initiativen zur Erinnerung an das Massaker der Foiben“ in ihrem Bereich geplant sind.Gianfranco Pagliarulo protestiertGewerkschafter und Oppositionspolitiker protestierten umgehend gegen die Einmischung der Regierung in die schulische politische Bildung. Gianfranco Pagliarulo, Präsident der Partisanenvereinigung ANPI, wies die versuchte Geschichtsfälschung zurück: Die Regierung ignoriere absichtlich „die bestialische Unterdrückung des örtlichen Widerstands durch italienische Militärkommandos, Massaker an der Zivilbevölkerung, die Verbrechen der faschistischen Spezialeinheit Xa MAS an der Ostgrenze, die faschistischen Konzentrationslager in Italien, in denen Kroaten und Slowenen interniert waren“.Der Historiker Enzo Collotti warf den Geschichtsrevisionisten außerdem vor, mit der Konzentration auf das „lokale Phänomen der Foiben“ das „universale Phänomen der Shoah“ relativieren zu wollen. Nicht zufällig folgt der Tag der Erinnerung („Il Giorno del Ricordo“) am 10. Februar unmittelbar auf den Shoah-Gedenktag („La Giornata della Memoria“) am 27. Januar.
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