Diätkultur: Nicht nur ein First World Problem

Kolumne Ob „Dry January“ oder „Veganuary“, der Verzicht ist zum Trend geworden. Dabei hat sich die einst religiöse Enthaltung zu einem Insta-Feature entwickelt
Ausgabe 07/2024
Für manchen ein üppiges Mittagessen
Für manchen ein üppiges Mittagessen

Foto: Imago/Pond5 Images

„Wo ist denn das Dritte?“, fragt der Bürokollege laut, „ich hatte doch drei eingepackt“. In einem Anflug von leichter Panik durchsucht er seinen Rucksack, bis er schließlich das dritte, verloren geglaubte, hartgekochte Ei wiederfindet. Das Mittagessen ist gerettet. Beziehungsweise das Nachmittagsessen, denn vor 16 Uhr wird nichts verzehrt, zumindest auf dieser Seite des Büros. Das strikte Zeitfenster für die Nahrungsaufnahme stammt aus dem Intervallfasten, die Eier haben null Punkte im Weightwatchers-Universum.

Der Kollege ist kein Einzelfall, diverse Bekannte und Befreundete berichten derzeit von ihren Diät-Ambitionen. Dabei haben wir gerade erst einen Monat ohne Alkohol („Dry January“) und/oder ohne Fleisch („Veganuary“) hinter uns und die Fastenzeit steht noch aus. Denn die hat sich von der religiösen Enthaltung zu einem Insta-Feature entwickelt. Weg muss, was vermeintlich nicht gut für uns ist – Social Media und Internetporno, Kaffee und Zigaretten oder eben Zucker und Kohlehydrate.

Letztere könnte man leicht in die Schublade „First World Problems“ stecken. Während ein Gros der Weltbevölkerung nach wie vor das Problem hat, ausreichend Nahrung zu beschaffen, steht eine Minderheit vor der Herausforderung, die Kalorienzufuhr zu reduzieren. Aber ganz so einfach ist es nicht – wie ja auch kein „hungerndes Kind in Afrika“ etwas davon hatte, dass ich als Kind brav aufgegessen habe.

Dabei machten auch meine eher alternativen Eltern damals mal eine Diät, was sie später interessanterweise leugneten. Aber meine Schwester und ich erinnern uns an größere Mengen von Grapefruit und – da sind sie wieder – Eier. Das Experiment wurde zu Beginn der 1980er-Jahre durchgeführt und passte in die Zeit. Das Wirtschafts- und Fresswunder war vorbei, eine ganze Generation kämpfte mit dessen gesundheitlichen Folgen: Verfettung von Arterien und Gemüt. Plötzlich schaffte es die „leichte Küche“ auf die Kochbuchtitel. Die Weightwatchers Deutschland formierten sich übrigens 1970 in der Wohnung von Irmgard und Walter Mayer in Düsseldorf, lese ich, und denke irgendwie an Loriot.

Es ist leicht, Witze über Diäten und Diäthaltende zu machen und ihre Bemühungen zu belächeln. Doch hinter dem Wunsch nach Gewichtsreduktion liegen oft ernsthafte Gründe. Neben rein gesundheitlichen Vorgaben sind dies oft die Sehnsucht nach einem besserem, einem anderen Leben oder das Gefühl, nicht dazuzugehören, allgemeinen gesellschaftlichen Ansprüchen nicht zu genügen. Diäten versprechen dann eine vermeintlich einfache Lösung. Wenn wir nur diszipliniert genug sind, dann wird sich alles zum Guten wenden. Und das Zählen von Punkten sowie der Verzicht auf Nahrung bis zum Nachmittag geben unserem Alltag den Halt und die Strukturen, die uns sonst vielleicht fehlen.

Meine Eltern waren Anfang der 1980er-Jahre übrigens schlank und sportlich. Heute würde man ihre Grapefruit-Eier-Phase vermutlich als Awareness-Challenge bezeichnen. Es ging ihnen damals, denke ich heute, wohl weniger um eine Gewichtsreduktion als um die Lust auf Veränderung, um eine Art Aufbruch. Eigentlich ein ganz schöner Gedanke, wenn nicht die meisten Diäten und die im Rahmen ihres Erfolgsversprechens verkauften Produkte eine gigantische Geldmaschine wären. Und das ist das eigentliche First World Problem.

Der Koch

Johannes J. Arens ist Journalist und Autor. Er studierte Design in Maastricht und Kulturanthropologie in Bonn. In den Küchen interessieren ihn besonders das Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Innovation sowie der Zusammenhang von Essen, Politik und Gesellschaft. Er ist Herausgeber des Foodmagazins „Zwischengang“ und Initiator des „Food Reading Festivals Cologne“. Im Freitag schreibt er die monatliche Kolumne „Der Koch

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