Wie ich mit Kleidergröße 38 als „curvy“ galt – und warum Schlaf wichtiger ist als Diät
Fitness Müssen wir unbedingt fit ins neue Jahr starten? Muss man Sport machen, darf man pummelig sein? Unsere Autorin wägt ab und kritisiert: Zwischen Fitnesswahn und „Fat is beautiful“ fehlt das Wissen darüber, was Armut mit unseren Körpern macht
Als ich ein Kind war, war der einzige Sport, den meine Mutter und meine Tante ausübten, der monatliche Wettkampf im Diäten. Bisweilen begann es bereits an der Wohnungstür; meine Mutter hatte kaum geklingelt, meine Tante hatte kaum die Tür geöffnet, da prüfte meine Tante mit strengem Blick, was meine Mutter längst wusste: Sie hatte wieder einmal zugenommen. „Du siehst aber fett aus“ lautete das unbarmherzige Assessment, wenn meine Mutter zu ihrem üblichen Übergewicht (denn schlank war sie nie gewesen) ein paar weitere Kilo zugelegt hatte.
Sie habe immer schwere Knochen gehabt, sagte meine Mutter einmal zu mir, und ich schmunzelte über die Aussage, aber tatsächlich, wenn ich die Bilder betrachte, die sie als Jugendliche zeigen
che zeigen, sehe ich es ganz deutlich: Sie ist nicht dick, aber nie, zu keinem Zeitpunkt, zierlich. Kein Wunder also, dass sie zeit ihres Lebens versuchte, ihrem fülligen, weichen Körper mit Diät-Shakes und anderen Wundermitteln in Tablettenform zu Leibe zu rücken.Nie im Leben wären meine Tante oder meine Mutter darauf gekommen, sich gesund zu ernähren oder Sport zu treiben. Beide arbeiteten viel und hart, waren immer auf den Beinen. Nach der Arbeit einen Sportkurs zu besuchen, hätte eine dreifache Verausgabung bedeutet: eine Verausgabung von Zeit, die sie nicht hatten, von Geld, das immer knapp war, und von Energie, die man für die Hausarbeit benötigte. Wer so viel in Bewegung ist, könnte man meinen, der sollte kein Übergewicht mit sich herumschleppen. Doch in meiner Familie wurden viele überzuckerte, hochverarbeitete Lebensmittel konsumiert. Obendrein war meine Mutter eine Frustesserin, die sich in einem ewigen Teufelskreis bewegte: aus Frust essen, zunehmen, mehr Frust erleben, mehr essen. Und dann traurig auf dem Sofa sitzen.Diäten waren die Fitness unserer MütterEin ewiger Kampf gegen den Körper. Während meine Mutter Tabletten schluckte, bevorzugte meine Tante Diäten, die sie wöchentlich Magazinen wie Bild der Frau entnahm. Die Kartoffel-Diät, die Ananas-Diät, die Reis-Diät. Morgens, mittags, abends Reis mit gedünstetem Brokkoli und einer kleinen Portion Putenbrust. Das ist, wenn ich nicht irre, das Essen, das Bodybuilder in der Phase kurz vor dem Wettkampf zu sich nehmen, wenn es gilt, letzte Fettreserven und Wasser loszuwerden. Die Reis-Diät half, berichtete meine Tante stolz, aber der Jo-Jo-Effekt würde bald alle Erfolge zunichtemachenSelbst mein jugendlicher Körper wurde von meinen Tanten – meine Mutter hatte viele Schwestern – permanent kommentiert. Zu dünn, hieß es lange, und dann, mit Beginn der Pubertät: zu dick. Ein paar Kilo an Po und Hüfte hatten den Unterschied gemacht. Eigentlich ein Wunder, dass ich im Verlauf meines Lebens keine größeren Komplexe – nicht größer, als es für die Durchschnittsfrau normal ist – entwickelte. Vielleicht aber auch kein Zufall, dass ich mit elf Jahren begann, Sportkurse im Fernsehen zu schauen und zu den wackelnden Hüften im Röhrenfernseher meinen Körper zu stählen. Eine Mischung aus Tae-Boe-Fitness und klassischen Kraftübungen, das gefiel mir.Meine Kondition war immer schlecht, ich bin eine bemitleidenswerte Schwimmerin, und Joggen bringt mich rasch an die Grenze eines Lungenkollapses. Aber Sit-ups kann ich. Und die einzige Eins, die ich jemals im Sportunterricht erhielt, war eine Eins für Liegestütze. Auf meine Arme konnte ich mich immer verlassen.Auch das brachte uns Corona: Mangel an Bewegung, dafür viel FrustMir war klar, dass ich schwere Knochen, jedenfalls keinen zarten, dünnen Körper habe, wohl aber einen, der erstaunlich leicht und gut Muskeln aufbaut (leider, leider verborgen unter dem Körperfett). Dass es also galt, all die Weichheit im Zaun zu halten und an den richtigen Stellen Muskeln aufzubauen. Gluteus maximus. Es klingt wie ein Zauberspruch aus einem Harry-Potter-Film.Als junge Frau hoffte ich trotzdem, als schlank durchzugehen, bis ein guter Freund diese Fantasie durchkreuzte, weil er mich für meinen Körper lobte, der so „curvy“ sei. Ich hatte damals Kleidergröße 36/38. Auch ein späterer Liebhaber betonte, dass ich „thick“ sei, was mich wirklich irritierte. Baby’s got back. Das war immer als Kompliment gemeint und betonte doch, was ich gar nicht wissen wollte.Meine ganzen Zwanziger hindurch machte ich alle zwei Tage eine Stunde lang irgendwelche Kraft- und Fitnessübungen in meiner winzigen Zweiraumwohnung und betonte doch bei jeder Gelegenheit, dass ich absolut unsportlich sei. Mit 33 war es dann endlich so weit, ich meldete mich bei einem Karatekurs an – und scherzte noch, dass nun, da ich (ich!) mich bei einem Sportverein anmeldete, eigentlich die Hölle zufrieren müsse. Dann kam Corona. Mein Karatekurs verlagerte sich in die virtuelle Realität, ich übte allein vor einem Bildschirm.Gemessen an den globalen Schäden, die die Pandemie erzeugte, zählen die Corona-Kilo, die viele Menschen in den Monaten des Lockdowns ansammelten, zu den vernachlässigbaren Folgen, könnte man meinen. Doch die Pandemie traf ja auf Menschen in den Industrienationen, die sich in aller Regel ohnehin zu wenig bewegten und die ohnehin ein paar Kilo zu viel mit sich herumschleppten. Die nötige Isolation und die damit verbundene Einsamkeit, der Mangel an Bewegung und das Frustessen verstärkten ein Problem, das bereits existierte – und im Fall von Covid-19 wiederum zu einem erhöhten Risiko einer schweren Erkrankung führen konnte. Die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention zeigten im Rahmen einer Studie, dass 78 Prozent der hospitalisierten oder verstorbenen Covid-Patienten übergewichtig oder fettleibig waren.Warum das Fat Acceptance Movement eine Kehrseite hatDas überrascht nicht, da Vorerkrankungen – etwa Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen – wiederum Risikofaktoren für einen schweren Verlauf darstellten. Die volle gesellschaftliche Brisanz dieser Statistik entfaltet sich allerdings erst, wenn man bedenkt, wie groß der Zusammenhang von Armut und Übergewicht in den Industrienationen ist: Wer heute in den USA oder Deutschland arm ist, hungert für gewöhnlich nicht, sondern ernährt sich mit den billigsten und ungesündesten Lebensmitteln, die stark fett- und zuckerhaltig sind. Übergewicht ist die logische Konsequenz. Oder, wie die FAZ mit Blick auf eine Studie zu Übergewicht titelte: „Armut macht dick, unbeweglich und abhängig“. Übergewicht, das lange Zeit als größte Gesundheitskrise verhandelt wurde, ist auch das Ergebnis einer Klassenlage.Das ist der Hauptgrund, warum das Fat Acceptance Movement, also die Bewegung für eine Akzeptanz von Fettleibigkeit, auch eine zynische Seite hat. Die Bewegung wirbt für mehr Akzeptanz für übergewichtige Menschen: Fat is beautiful! Dabei kreist sie allerdings nur um die Frage der Schönheit – so als sei es das Hauptproblem einer übergewichtigen Person, ob sie nun als schön oder nicht schön empfunden wird. Mit Sicherheit braucht ein übergewichtiger Mensch keinen Hass und keine Ausgrenzung. Die vernünftige Forderung, Betroffene menschenwürdig zu behandeln, kann allerdings im Umkehrschluss nicht dazu führen, Adipositas zu affirmieren. Eine Bewegung, die den Zusammenhang zwischen Fettleibigkeit, Armut und frühzeitigem Tod einfach negiert oder unterdrückt, leistet nichts, aber auch gar nichts für die Gleichstellung übergewichtiger Menschen. Fat Acceptance stützt ein zutiefst ungerechtes System des ungleichen Umgangs mit dem eigenen Körper.Wäre die Energie nicht besser investiert in die Verbreitung von Wissen über Ernährung und sportliche Betätigung? Oder darüber, dass Dick-Sein eben häufig Arm-Sein impliziert – was in den USA übrigens bedeutet, dass man eine unterdurchschnittlich schlechte Gesundheitsversorgung hat, also mit höherer Wahrscheinlichkeit krank wird, aber mit geringerer Wahrscheinlichkeit eine adäquate Behandlung erhält?Für die Speerspitze des Fat Acceptance Movement ist die mediale Präsenz eine Einkommensquelle: Man ergattert Magazintitel und lukrative Werbeverträge. Wir leben eben in einem kapitalistischen System, in dem ein Körper nie nur ein Körper ist, nie nur dünn oder dick oder schlank oder muskulös ist, sondern in dem es für jedes Körperziel und jede Körperarbeit entsprechende Produkte zu verkaufen gilt.Noch wichtiger als das Wissen über Ernährung: Das Wissen über SchlafWürde es also helfen, wenn überzuckerte Produkte etwa durch eine Zuckersteuer erheblich teurer würden, wie es derzeit diskutiert wird? Wenn etwas die täglichen Konsumentscheidungen beeinflusst, dann doch der Preis eines Lebensmittels. Aber solange die ungesündesten Lebensmittel die billigsten Lebensmittel bleiben und solange der Frust Löcher gräbt, die schnell gestopft werden wollen, wird sich für ärmere Menschen nichts am Zusammenhang von Klasse und Gewicht ändern.Meine Mutter besaß ein Fitnessbike und Gummi-Stretchbänder, Hanteln und Gymnastikbälle. Sie nahm täglich Pillen und ersetzte Weizenbrot durch Proteinbrot. Sie hoffte auf ein Wunder, das durch irgendein Konsumprodukt über sie kommen würde, weil ihr entscheidendes Wissen über gesunde Ernährung und Fitness fehlte.Nehmen wir etwa den Zusammenhang von Schlaf und Übergewicht. Schlafmangel führt bereits nach kürzester Zeit zu vermehrter Fettspeicherung und zur Reduktion von Muskelproteinen. Das ist nicht unbedeutend für Menschen, die überdurchschnittlich viel arbeiten, um über die Runden zu kommen, oder die sich schlaflos im Bett wälzen, weil sie mit allerhand Sorgen kämpfen.Ein weiteres Beispiel: Körperfett ist nicht gleich Körperfett. Wo wir Körperfett ansammeln, ist das Ergebnis unserer Veranlagung. Für Frauen ist Körperfett, das an den Oberschenkeln sitzt, sogar positiv (sofern es nicht in krankhafter Menge vorhanden ist). Körperfett in der Bauchregion ist dagegen sehr schädlich, weil es sich an den Organen anlagert und zudem hormonell wirksam wird, also unmittelbar auf den Stoffwechsel zurückwirkt und häufig zu mehr Übergewicht führt.Dieses Wissen kann man sich aneignen, durch Ratgeber, Youtube-Ärzte oder die Lektüre von Studien. Doch um sich Wissen anzueignen, braucht man abermals Zeit und den Zugang zu Wissensressourcen; meine Mutter hatte nicht einmal einen Internetzugang oder eine Bibliothekskarte. Stattdessen setzte sie auf Wundermittel.Konsumentscheidungen werden nicht „frei“ getroffen, solange Wissen nicht frei zugänglich ist – und die Möglichkeit, sich um die eigene Gesundheit und vor allem um das eigene Wohlbefinden zu kümmern, nicht gerecht verteilt ist. Da wären wir wieder bei so wichtigen Ressourcen wie Zeit, Geld und Energie.
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