„Grand Hotel Abgrund, Vollpension“: Die Leiche liegt nicht hinterm Duschvorhang

Kunst Nicholas Warburg begibt sich mit „Grand Hotel Abgrund, Vollpension“ auf düstere Spurensuche im Wirtschaftswunderland BRD
Ausgabe 39/2023
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Foto: Kunstraum Potsdam

Im Keller liegen die Leichen. Ein bisher gern gewähltes Bild, um die verdrängte Schuld an der Shoah im kollektiven Unbewussten der Deutschen zu verorten. Der Künstler Nicholas Warburg hingegen – zuweilen auch im kontroversen Aktionskunstkollektiv Frankfurter Hauptschule unterwegs – sucht das Verdrängte an einem anderen Ort: dem Hotelzimmer im Grand Hotel Abgrund. Bisher war das weniger ein Ort als eine Haltung, hatte doch der marxistische Philosoph Georg Lukács auf diese Bezeichnung zurückgegriffen, um 1962 Theoretikern der Frankfurter Schule einen ohnmächtig elitären Blick auf die Welt zu attestieren. Aktionistische Radikalschläge gegen das gilded age der BRD erwarten einen jedoch nicht im Kunstraum Potsdam. Vielmehr ein rätselhaft verwobener Dschungel aus Referenzen.

Zur Orientierung dient der Raumplan. Oder auch nicht, denn dort fliegen einem Theorie-Knüppel in Form etwas sperriger Titel wie Sein-und-Zeit-Uhr oder Ornament und Verbrechen um die Ohren. Den Plan beiseitegelegt, verflüchtigt sich der Referenzterror des Grand Hotel schnell im ästhetischen Komfort der „Vollpension“. In pastosem Braun lackierte Naturholz-Möbel im Schlafzimmer erinnern an David Lynchs Twin Peaks und wechseln sich mit banalen wie bösen Gegenständen ab. Dazu gehört ein Globus, der durch Aufdrucke der Logos von Aldi Nord und Süd in zwei Hälften zerfällt. Funktion? Minibar.

Im Foyer blickt man zunächst auf die Heidegger-Uhr, bevor einem Adornos Kulturindustriekritik im Gemälde Stahlbad begegnet. Streift man in Richtung Badezimmer, wird es auch schon wieder karger. Vorbei am marineblau gekachelten Pissoir fällt der Blick auf jene Badewanne, in der Uwe Barschel 1987 tot aufgefunden wurde. Doch hinter dem Duschvorhang liegt keine Leiche. Monoton dreht hier eine Modelleisenbahn ihre Runden, vorne drauf eine Kamera – ewig gleiches Spektakel. Resümee dieses Hotelrundgangs: jede Flucht eine Sackgasse, oder, mit Heidegger im Kopf: jede Sinnsuche im Referenzdschungel ein Gang auf dem Holzweg.

Im Hotelzimmer bleibt die Kellertür also verschlossen. Denn anders als im schaurig-schönen Kellergang, in dem man herumschlich, wenn man mit Derrick auf Verbrecherjagd ging und in Fassbinders BRD-Trilogie nostalgisch in Nachkriegsekel versank, bleibt Nicholas Warburg an der Oberfläche der Gegenwartsästhetik. Von dort aus sucht er nach Kratzern im Lack, nach Abweichungen in den Ornamenten bundesdeutscher Popkultur. Einmal auf Spurensuche, zeigt sich der lange Schatten der Shoah in den disparaten Details. Abseits von Theorie-Referenzen und ironischer Heidegger-Mystik verdichten sie sich zur narrativen Klammer. Nur ein Beispiel sind die vereinzelt herumliegenden Schuhe, die das Bild der Schuhberge von Auschwitz rituell wachrufen. Eindeutiger ist die Jahreszahl „1945“, die, in den dick lackierten Rahmen gebrannt, das Bild der enthemmt taumelnden Wiedervereinigungsparty 1989 ziert. Krieg und Shoah nicht mehr als stumpfe Symbole? Was hier als Meme-Gag ohne erlösendes Lachen zündet, ist erinnerungspolitischer Fatalismus und nicht die distanzierende Ironie. Das ursprüngliche Verbrechen wirft seinen Schatten auf Gegenwart und Zukunft. Im Schatten spuken die Gespenster der Vergangenheit „unerlöst“, so der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch im Ausstellungstext. Sie kehren wieder und kratzen am Lack – ob im Grand Hotel Abgrund oder in bayrischen Bierzelten am Wahlsonntag.

Grand Hotel Abgrund, Vollpension Nicholas Warburg Kunstraum Potsdam, bis 15. Oktober 2023

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