Das Nachleben des Nationalsozialismus

Mitte-Studie Die Leipziger Mitte-Studie zeigt besonders Kontinuität menschenfeindlicher und autoritärer Denkmuster. Die Mitte der Gesellschaft ist Hort antidemokratischen Potentials

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Alle zwei Jahre wird die Leipziger Mitte-Studie veröffentlicht, so auch dieses Jahr. Und jedesmal wird sie ausgiebig von Medien, Wissenschaft und Politik rezipiert, dabei entsteht in der Beurteilung der Studie immer wieder die klassische Kluft zwischen liberalen bis linken Kreisen auf er einen, und konservativen Kreisen auf der anderen Seite. Herausgegeben wurde sie von Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler. Die Geldgeber sind dieses Mal andere als sonst: Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist nicht mehr dabei, stattdessen fördern die Heinrich-Böll-Stiftung, die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Otto-Brenner-Stiftung.

Die Ergebnisse zeigen: Antidemokratische Milieus radikalisieren sich und die Mitte der Gesellschaft präsentiert sich selbst als (in Teilen) antidemokratisch und rassistisch. Auch in sogenannten demokratischen Milieus ist Rassismus jedoch nicht wenig ausgeprägt. Aber vor allem zeigt die Studie Kontinuität bezüglich der Ausprägung rassistischer, degradierender, menschenfeindlicher Denkmuster. Eine wesentliche Neuheit: Die Alternative für Deutschland (AfD) bindet nun bloß antidemokratisches Potential an sich, so dass dieses offensichtlicher zum Vorschein kommt. Antidemokratische, rechtsextreme und autoritäre Einstellungen kommen aus der Mitte der Gesellschaft, sie war und ist „nicht der Schutzraum der Demokratie, sondern aus ihr kann ein großes antidemokratisches Potenzial erwachsen.“ (S.15) Das lässt sich also grundsätzlich nicht an Wahlergebnissen ablesen.

Weitergehend lässt sich jedoch ganz klar eine Steigerung des gruppenbezogenen Hasses und zudem ein Anstieg der (arbeits-) marktbezogenen Befürwortung von Migration feststellen. Das bedeutet: Der autoritäre Charakter des hiesigen Kapitalismus setzt sich zunehmend durch, milieuübergreifend, inklusive innergesellschaftlicher Hierarchisierungsmechanismen. Insgesamt lässt sich die Botschaft zugespitzt mit Adornos Worten, dass „das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie“ einzustufen sei, zusammenfassen. Die Zivilisation bringt das Antizivilisatorische hervor. Von dieser Sicht aus sollte daher verstärkt auf die Ergebnisse der Studie geschaut werden, um bestenfalls Konsequenzen für unser geltendes Demokratiemodell und die demokratische Praxis zu ziehen. Schließlich ist die Kritische Theorie auch die Tradition, in die die Autoren die Studie einordnen, besonders bezogen auf die Studien über Autorität und Familie von Max Horkheimer, Erich Fromm und Herbert Marcuse.

Ergebnisse der Fragebögen

Auf verschiedenen Fragebögen wird alle zwei Jahre die Verbreitung und Ausprägung von autoritären und rechtsextremen Einstellungen erfasst (dieses Jahr konnten 2.420 Menschen befragt werden). Die grundlegende Frage ist, wie verbreitet und wie stark ausgeprägt rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung sind. Tiefergehend stellt sich in der „kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit der Gegenwartsgesellschaft […] die Frage, warum sie das, was sie bedroht, immer wieder selbst hervorbringt.“ (S.12) Zentral ist der zu rechtsextremen Einstellungen mit 6 Dimensionen: Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus. Außerdem gibt es noch Fragebögen zu Autoritarismus, zu Verschwörungsmentalität, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Sexismus, Akzeptanz der Demokratie, Akzeptanz von und Bereitschaft zu Gewalt (zur Interessendurchsetzung) u.a.

Wichtig zu nennen ist die verwendete Rechtsextremismus-Definition (wobei an anderer Stelle die Verwendung des Verfassungsschutzbegriffs Rechtsextremismus, welcher deren absurder Extremismustheorie dient, statt Rechtsradikalismus zu kritisieren wäre): „Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen.“ (S.29) Auf dem zentralen Fragebogen zu rechtsextremen Einstellungen fanden erschreckende Aussagen erschreckend hohe Zustimmung:

U.a. die Bevorzugung einer Diktatur im nationalen Interesse unter bestimmten Umständen (fast 25% stimmen zumindest teils zu), oder die Überzeugung, ohne Judenvernichtung würde Hitler als großer Staatsmann gelten (ca. 20% mindestens Teilzustimmung), „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ (45% mindestens Teilzustimmung, 22% stimmen mindestens überwiegend zu), sowie die Annahmen eines großen Einflusses der Juden (abgesehen von 11% Zustimmung zusätzlich 21% Teilzustimmung), einer deutschen Überlegenheit gegenüber anderen Völkern (über 30% mindestens Teilzustimmung), und die Verbrechen im Nationalsozialismus würden in der Geschichtsschreibung übertrieben (finden 16% teilweise, abgesehen von 6% richtiger Zustimmung). Fragen zu Macht und Auftreten Deutschlands im nationalen Interesse können auch um die 50% mindestens Teilzustimmung verbuchen. Bei Betrachtung der erwähnten Dimensionen ist zu sehen, dass besonders Chauvinismus im Sinne eines aggressiven Nationalismus und der Aufwertung der eigenen Nation und Ausländerfeindlichkeit im Sinne der Abwertung anderer äußerst hohe Zustimmungswerte haben. Aber auch für Rechtsautoritarismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus (besonders die Auffassung von wertvollem und unwerten Leben relevant mit fast 9% Zustimmung und 12% Teilzustimmung) werden hohe Werte erzielt.

Auf anderen Fragebögen wurde versucht, mehr über die Ungleichwertigkeitsideologien zu erfahren. So nimmt Islamfeindschaft (gemessen mit Aussagen wie Fremd im eigenen Land), Antiziganismus (kriminell, aus Innenstädten verbannen) und die Ablehnung von AsylbewerberInnen zu, zusätzlich zeigt sich ein großes Homophobieproblem: „40% der Befragten stimmten der Aussage zu, es sei »ekelhaft«, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen und fast 25% finden Homosexualität unmoralisch […] Schließlich denken 36,2% der Befragten, dass Ehen zwischen Frauen bzw. zwischen Männern nicht erlaubt sein sollten.“ (S. 50) Ein Fragebogen zu den drei Dimensionen des Autoritarismus (die autoritäre Aggression, die autoritäre Unterwürfigkeit und der Konventionalismus) bestätigt die Beständigkeit autoritärer Einstellungen. „Das ist nicht überraschend, handelt es sich beim Autoritarismus doch in der Tradition der Autoritarismusforschung von Horkheimer, Fromm und Marcuse über Altemeyer (1988) bis heute um ein Konstrukt, das Persönlichkeitsmerkmale misst, die auf frühe Sozialisationsphasen zurückgehen und deshalb als relativ stabil gelten.“ (S. 56)

Ebenfalls nimmt die Bereitschaft, Gewalt einzusetzen zu (fast 20% der Befragten), noch höher ist der Prozentsatz derjenigen, die Gewaltausübung an andere übertragen, die für Ordnung sorgen sollen (28,3%). Weitere Fragebögen ergeben: Großes Vertrauen besteht in die Polizei, auch ins Bundesverfassungsgericht; knapp über 50% setzen ihr Vertrauen sogar noch in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk; die Werte für Fernsehen und Zeitungen liegen knapp darunter, nur Parteien genießen mit 23% nur schwaches Vertrauen. Auf Ablehnung stößt also besonders der parlamentarische Raum, während für den außerparlamentarischen Raum hohe Zustimmung befunden wird, gerade Law and Order, Freund und Helfer ist scheint fest verankert zu sein. Der Konformismus und die mangelnde Bereitschaft, sich kritisch mit Institutionen des Bestehenden auseinanderzusetzen nehmen teilweise schon erschreckende Züge an: „23,5% der Befragten sehen auch keinen Grund, Geheimdiensten, Regierungen oder Medien zu misstrauen.“ (S.61) Das ist genauso wie die andererseits hohen Zustimmungswerte für verschwörungstheoretische Annahmen geheimer Strippenzieher besorgniserregend. Schließlich „teilt allerdings fast ein Viertel der Befragten die Ziele von Pegida »vollkommen« [...] Dieses Ergebnis zeigt, dass die lange schon vorhandene und über einen langen Zeitraum unter anderem durch die Leipziger »Mitte«-Studien nachgewiesene rechtsextreme Einstellung inzwischen verstärkt auf die Straße getragen wird, was von einem nicht unerheblichen Anteil der Bevölkerung unterstützt wird.“ (S.64)

Das konforme Milieu und der autoritäre Charakter

Bislang gelang es offen rechten Parteien kaum – trotz des Einstellungspotentials in der Bevölkerung – Wahlerfolge einzufahren. Stattdessen waren die Wählenden mit nach der Mitte-Studie rechtsextremen Einstellungen gebunden an SPD und CDU. Diese antidemokratischen Milieus, die sich der Mitte zuordnen, wählten bisher demokratisch und für diese Parteien ist die AfD die Konkurrenz, nicht für die NDP, die sich als irrelevant erweist. In den Mitte-Studien kam immer heraus, dass rechtsextrem Eingestellte etablierte Parteien wählen. Jetzt aber folgt der Einstellung auch Handlung. Außerdem stärkte die Bindung an etablierte Parteien, dass durch die autoritäre Orientierung der Deutschen sowohl Macht als auch der Konventionalismus eine große Rolle spielen.

Durch die massive Diskursverschiebung nach rechts entstand dann Spielraum für eine wählbare rechte Alternative. Diese treffende Analyse ist das große Verdienst der Studie. So fällt die Zustimmung zu einer rechtsautoritären Diktatur unter AfD-WählerInnen am höchsten aus. Genauso ist es beim Chauvinismus, der Ausländerfeindlichkeit und dem Antisemitismus, sowie bei der NS-Verharmlosung. SPD, CDU/CSU und die Linke verlieren die Rechtsextremen als WählerInnen. Außerdem scheint die bisherige AfD-Wählerschaft sich zu radikalisieren: „Schließlich ist auch die hohe Gewaltakzeptanz und Gewaltbereitschaft bei den Wählerinnen und Wählern der AfD hervorzuheben. Zieht man die niedrige Zustimmung zur Demokratie in ihrer verfassungsmäßigen und praktizierten Form sowie die hohe Abwertung von Minderheiten hinzu, ergibt sich eine gefährliche Mischung an Einstellungen. Diese schon lange und fest in Deutschland verankerten Einstellungen werden inzwischen auch in Handlungen übertragen: in Form von Wahlentscheidungen für die AfD und, wie die Statistiken von Polizeibehörden und Opferberatungsstellen zeigen, auch in Gewalt.“ (S.93)

Antidemokratisch-autoritäre Milieus haben an Stärke verloren, hingegen sind gerade konformistische Milieus gewachsen. Aber gerade in antidemokratischen Milieus ist dafür wie schon erwähnt eine Radikalisierung und steigende Gewaltbereitschaft und Akzeptanz dieser zu erkennen; es findet also eine enorme Polarisierung statt. Gleichzeitig steigt der Konformismus mit diesem System, als Polarisierungsreaktion im demokratischen Lager. Gerade in demokratischen Milieus ist das Vertrauen in Institutionen (auch Parteien) in den letzten 10 Jahren klar gestiegen. Zum konformen Milieu wird geschrieben: „In diesem Milieu ist die Bereitschaft, sich Autoritäten zu fügen und zur autoritären Aggression gegenüber Abweichung groß. Auch mit Blick auf die Verschwörungsmentalität gibt es in diesem Milieu eine deutliche Präsenz der autoritären Orientierung“ (S.116). Außerdem ist in diesem Milieu die Ablehnung von Muslimen, Sinti und Roma und Homosexuellen stark ausgeprägt. In antidemokratisch-autoritären Milieus besteht immer noch eine starke Bereitschaft, Union und SPD zu wählen, je nach Milieu zwischen 10% und knapp über 20%, auch wenn die Werte deutlich gesunken sind. Gerade bei der AfD kommen diese Verluste auf das Guthabenkonto.

Der »Autoritäre Charakter« ist wie ein Fahrradfahrer, der nach oben buckelt, nach unten tritt und immer in den eingefahrenen Bahnen der Konvention bleibt.“ (S.12) Autoritäre Dynamik durchzieht die Gesellschaft. Hier knüpft die Studie deutlich an die Kritische Theorie an. „Der Preis, mit der für die Unterwerfung unter eine Autorität bezahlt wird, ist die Identifikation mit dieser Autorität; die Psychoanalyse bezeichnet das als Identifikation mit dem Aggressor.“ (S.13) Adorno führte schon aus, dass die autoritätsgebundenen Charaktere nur über ein schwaches Ich verfügen und daher die Identifikation mit großen Kollektiven suchen. Ein solches Kollektiv kann die Konstruktion einer Nation sein, ein Kollektiv, das sich selbst über andere erhebt. Im autoritären Charakter hat das Individuum sich aufgegeben, seine Wesenszüge verdrängt, sein Selbstverständnis weicht der Unterordnung unter eine kollektive Identität. So wächst die Abneigung gegen das Abweichende, also das Individuum, das nach sich selbst strebt, das sich dem Menschlichen zuwendet.

Noch immer sind weite Teile der Bevölkerung bereit, abzuwerten und zu verfolgen, was sie als abweichend und fremd wahrnehmen. Dabei wird immer deutlicher, dass hinter dem rassistischen und ethnozentrischen Denken in Deutschland weiterhin die Annahme einer Volksgemeinschaft als Schicksalsgemeinschaft steht.“ (S.21) Dieser Zustand wird politisch massiv gefördert, besonders in den aktuellen Debatten um den Umgang mit Flüchtenden und Geflüchteten. Adornos Feststellung in Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, dass im Nachkriegsdiskurs mit Aufarbeitung eigentlich einen Schlussstrich ziehen oder am besten vergessen gemeint sei, spiegelt sich in heutigen immer wieder auftauchenden Diskussionen wider.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden