Der wirkliche Wahlsieger ist die Demokratie

Großbritannien Die Basis der Labour-Partei hat Jeremy Corbyn an ihre Spitze gestellt. Es wird Zeit für seine innerparteilichen Gegner, das zu akzeptieren. Zusammenarbeit ist Pflicht

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Corbyn hat überrascht
Corbyn hat überrascht

Bild: Chris J Ratcliffe/Getty Images

"Versagen des Neoliberalismus"

Richtig glücklich war der "Economist" schon eine Woche vor den britischen Unterhauswahlen nicht: dem Vereinigten Königreich und Nordirland fehle die politische Mitte, monierte er in einem seiner fünf Leitartikel. Die Führer beider großen Parteien hätten sich von einer jahrzehntealten Vision eines offenen, liberalen Landes abgewandt.

In zwei weiteren Artikeln ging die Wochenzeitschrift auf Jeremy Corbyns "relativ erfolgreichen Wahlkampf" ein: dieser habe gezeigt, dass die Unterstützung sozialistischer Ideen nicht automatisch ein Todeskuss sei. Mehr noch: von Cameron bis zu May seien Fehler gemacht worden, und der Zorn der Wähler habe Corbyn bei den Basiswahlen der Labour-Partei an die Spitze gebracht.

Dieser Zorn aber, räumte der "Economist" ein, liege im Versagen des Neoliberalismus begründet. Ein solcher Befund ist insofern bemerkenswert, als das Blatt selbst ein kompromissloser medialer Anwalt für eben die neoliberale Ideologie ist.

Alles oder wenig

Mit einer Mischung aus Fracksausen und letzter Hoffnung blickte der "Economist" auf die Strategie der britischen Konservativen, nicht nur ihre bisherigen Wahlkreise zu halten, sondern Labour-Wahlkreise hinzuzugewinnen. Besonders interessant werde es sein, Northfield und Bishop Auckland zu beobachten. Sollten die Konservativen es dort nicht schaffen, stünde Premierministerin Mays Zukunft in Frage. Erfolge der Konservativen dort hingegen würde bedeuten, dass Labour, abgeschnitten von seinen Wurzeln in der Arbeiterklasse, zu einer Partei öffentlicher Bediensteter und Berufsprotestler würde.

In Northfield baute der amtierende Labour-Abgeordnete Richard Burden seinen Anteil den Vorhersagen zufolge nun deutlich aus, und in Bishop Auckland schaffte es die amtierende Labour-Abgeordnete Helen Goodman, ebenfalls mit einem verbesserten Ergebnis, aber nur knapp vor dem konservativen Kandidaten Christopher Adams, der sich noch weitaus stärker verbesserte als Goodman.

Davon abgesehen, dass Corbyn einen inspirierenden Wahlkampf führte, lieferte die Premierministerin ihm unfreiwillig noch einiges an Material: sie ließ sich auf ein konservatives Wahlprogramm ein, dem zufolge mehr ältere pflegebedürftige Menschen für benötigte Leistungen selbst würden zahlen müssen. So gewinnt man nicht in traditionellen Labour-Wahlkreisen, und man vergrätzt obendrein konservative Stammwähler. Offenbar hatten die Konservativen das alte Prinzip nicht hinreichend beachtet, nach dem es leichter ist, eine schon gewonnene Klientel zu halten, als weitere Unterstützer hinzuzugewinnen.

Und ebenfalls eine Belastung für May und die Konservativen waren die Londoner Terroranschläge. Normalerweise erhalten Amtsinhaber in Phasen, die als kritisch empfunden werden, zusätzliche Unterstützung - der Amtsbonus wirkt. Aber Theresa May hatte als Innenministerin einen erheblichen Stellenabbau bei der Polizei vorgenommen - das behinderte im Wahlkampf konservative Bemühungen, ihre Partei als die Garantin öffentlicher Sicherheit darzustellen. Und es dürfte in den Augen vieler Wähler außerdem die Bemühungen der schwarzen Propaganda ad absurdum geführt haben, Jeremy Corbyn als "Aktivisten für rechtskräftig verurteilte Terroristen" darzustellen.

Ausblick

Corbyn hat überrascht. Wahr ist, dass seine konservativen Gegner ihm in den letzten Wochen eher geholfen als zugesetzt haben. Aber er hat seine Partei geführt - bisher bestritten seine Kritiker, dass er das überhaupt könne.

Und etliche Labour-Abgeordnete verdanken jetzt auch ihm ihr Mandat. Corbyn - und seine Unterstützer, insbesondere an der Basis - ist es gelungen, die Konservativen so weit nach links zu treiben, dass denen links und rechts die Wähler herunterfielen. Es wird Zeit, dass das Labour-Establishment den Mann akzeptiert, den die Basis zu Recht an ihre Spitze gestellt hat.

Von "historischen" Tagen ist oft die Rede. Der achte Juni 2017 hat das Zeug, tatsächlich einer zu werden. Denn die Basis hat Corbyn zum legitimen Parteiführer gemacht, und die gestrigen Unterhauswahlen haben die Basiswahl bestätigt.

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Zum Wahlergebnis, sozialismus.de, 10.06.17
May to seek Queen's permission, BBC, 09.06.17
Key points at a glance, BBC, 09.06.17

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