Unter der U-Bahn, die hier keine ist, weil sie oben fährt, zwischen Himmel und Erde, bildet Taubendreck ein ganz eigenes Kunstwerk. Alles ist voll mit angeschlossenen Fahrrädern, Jogginghosen, Kopftüchern, Handwerkern, Bärten, Kinderwagen, es riecht nach Zigaretten und Joints und Urin und Bier und Kaffee und Döner – Kreuzberg ist wie Deutschland: dreckig und schön.
Erst recht im Sommer. Der ist vorbei, aber in diesem Jahr hat er viele letzte warme Tage, jeder einzelne nötigt ein allerletztes Mal ins Freibad. Entsprechend groß ist der Andrang. Sicherheitskräfte mit Migrationshintergrund kontrollieren Ausweise und Taschen, zum Klo muss man anstehen, für ein Schließfach auch. Doch seltsam: Niemand wirkt angespannt, als wäre vorzeitig hier drinnen das Paradies angebrochen, oder zumindest ein Waffenstillstand ausgerufen im Krieg aller gegen alle. Eine berückende Abwesenheit von Aggressivität liegt in der Luft, eine beglückende Hingabe – ans Dasein, ans Sosein, an das enge Beieinandersein, an Haut und Blicke und Pommesduft.
Da stehen, gehen, hüpfen, sitzen, reden, schweigen Kinder und Alte, Studis und Blaumänner, Bürotypen und Touristen, gefärbte Teens und trotzige Glatzen, Türken und Nichttürken, Geliftete und Stolzfaltige, Bierbäuche und Waschbrettbäuche, Barbusige und Burkinis, Warmduscher in Taucheranzügen und eisgestählte Schwimmerinnen, Englisch- und Allesmöglichesprachige, Gefallsüchtige und Gleichgültige, Männer und Frauen und einiges dazwischen, Knutschende und Coole, Gepiercte und Introvertierte. Nur große Tiere fehlen, aber man kann einigermaßen sicher sein, dass, wären sie erlaubt, im Prinzenbad die Wölfe bei den Lämmern und die Parder bei den Böcken lägen, dass Knaben Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander trieben, hin zum Kiosk, um ihnen ein Erdbeereis auszugeben.
Draußen geht die Welt weiter, das Donnern schwerer Wagen dröhnt gedämpft herein, doch hier, auf den roten Steinen, schon halbschattig, aber noch warm, sitzliegthockt es dicht an dicht, krault einander den Rücken, tropft, trocknet, träumt. Eine schrägsonnige Melancholie verklärt jeden Schwimmzug zum Abschiedsgruß und erlaubt keinen Gedanken an gestern, morgen, Ländergrenzen, Waffenlieferungen, Aufenthaltsgenehmigungen, Staatsangehörigkeiten. Das Freibad im September wird zur Heimat aller Völker und Signale.
Und bevor der Herbst kommt mit seinen Stürmen, mit seiner Kälte, mit seinen aggressiven Gewissheiten und langen Briefen, mit seinem Zu-spät und seiner ausführlichen Einsamkeit, tanken wir ein letztes Mal das Benzin der Liebe, lassen uns von uneindeutigen Multitäten durchströmen, sind, sonnengewärmt, unpolitisch und herrlich großstadtprovinziell, einfach nur Weltbürger in Badehosen.
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