„Notizen zu einer Hinrichtung“ von Danya Kukafka: Serienkiller mit Bauchansatz

Krimi Aus den Perspektiven dreier Frauen und eines Serienkillers selbst rollt Danya Kukafka dessen Leben und Taten auf: „Notizen zu einer Hinrichtung“ fragt nach individueller Schuld und strukturellen Ursachen von Verbrechen
Ausgabe 15/2024
„Notizen zu einer Hinrichtung“ von Danya Kukafka: Serienkiller mit Bauchansatz

Foto: Devon Munoz

Das Serienmörder-Narrativ hat sich in den letzten Jahren, eigentlich Jahrzehnten, in der Genreliteratur kaum verändert: Seit dem Schweigen der Lämmer ist der (meist männliche) Serientäter in der Regel hochintelligent und kultiviert, er folgt bei seinen Taten einem ganz bestimmten Schema und hat einen speziellen Rhythmus, der zum Ende hin immer rasanter wird, um dann zu eskalieren. So weit, so altbekannt. Dass Serientäter in der Realität ganz anders sein können, hat sich in der Fiktion bislang nicht durchgesetzt. Gemeinsam ist den realen wie fiktiven Serienmördern jedoch, dass von ihnen eine morbide Anziehungskraft ausgeht. Anders lassen sich die Myriaden an Thrillern und True-Crime-Storys kaum erklären.

Notizen zu einer Hinrichtung von Danya Kukafka scheint zunächst ins gleiche Horn zu stoßen: So vermutet Detective Saffron Singh in dem Serientäter, den sie verfolgt, einen äußerst intelligenten, strategisch operierenden Menschen, manipulativ und eiskalt unter der freundlichen Oberfläche. Doch schon von Anfang an gibt es Störmomente: Der Täter ist bekannt. Zu Beginn des Romans ist Ansel Packer bereits zum Tode verurteilt und sitzt in den USA in einem Hochsicherheitsgefängnis ein. Nur noch zwölf Stunden bleiben ihm, bis er die Giftspritze erhalten soll. Aus vier verschiedenen Perspektiven wird aufgerollt, wie es dazu kam: aus Sicht der Mutter Ansels, aus der seiner ehemaligen Schwägerin Hazel sowie aus der von Detective Saffron Singh; und auch der Blinkwinkel Ansels selbst wird eingenommen, allerdings aus sehr ungewöhnlicher Du-Perspektive. Das irritiert zunächst stark, wird im Laufe des Romans aber immer plausibler.

Kein Monster, kein Abgrund

Über fast 50 Jahre erstreckt sich die Handlung, und es wird überraschend wenig versucht, die Motivation des Täters zu erklären. Zentraler ist, wie die drei Frauen sich verändern im Laufe der Jahre und wie sie jeweils zu Ansel stehen. Das Bild, das dabei von ihm entworfen wird, ist vielschichtig und widersprüchlich. Ist er tatsächlich der brillante Typ, für den Saffron ihn zunächst hält? Ist die „Theorie“, die Ansel in seinen Notizen entwirft und die immer wieder thematisiert wird – die Existenz von parallelen Lebenswelten, je abhängig von gefällten Lebensentscheidungen und als Konsequenz daraus das Nebeneinander von Gut und Böse in jedem Menschen –, nicht ziemlich trivial? Hinzu kommt: Ansel ist im Grunde völlig durchschnittlich, ein ziemlich langweiliger Mann mit Bauchansatz und schütterem Haar. Da steckt kein Monster, kein Abgrund drin, oder?

Das Serienmörder-Narrativ wird auf diese Weise immer weiter unterlaufen und zerbröselt. Was Ansel im Einzelnen getan hat, wird nicht geschildert. Gibt es überhaupt ein Tatschema? Warum liegen so viele Jahre zwischen den ersten Morden und dem letzten? Überhaupt wird wenig Gewalt dargestellt, obwohl sie ein zentrales Thema des Romans ist – darum ist es so passend, dass die Passagen, die Ansel in den Mittelpunkt stellen, in der Du-Perspektive gehalten sind: Das schafft Distanz, erstickt jeden Voyeurismus schon im Ansatz. Statt explizite Gewaltszenen auszumalen, geht es weit eher um alltägliche Gewalterfahrungen der drei Frauen, um Misogynie und Rassismus im Beruf wie im Privatleben. Um strukturelle Gewalt im US-Rechtssystem. Um die Opioid-Krise. Aber auch um die Faszination, die von einem Serienmörder ausgeht – die allerdings kennt eine klare Grenze. Vier Morde werden Ansel zur Last gelegt: an drei Teenager-Mädchen Anfang der 1990er und an seiner Ex-Frau Jenny 20 Jahre später. Für die Medien sind nur die ersten drei Taten von Interesse. Niemand will etwas über den Tod von Jenny wissen, wie Hazel, ihre Schwester, feststellt, da es so häufig vorkommt, dass Männer ihre Ex-Frauen umbringen.

Danya Kukafka nutzt so das Serienkiller-Genre, um gesellschaftliche Fragen zu reflektieren. Außerdem beschäftigt sie sich mit dem Zusammenhang von individueller Schuld und strukturellen Ursachen von Verbrechen – sodass sich der Roman zu einem Plädoyer gegen die Todesstrafe auswächst, ohne Gewalttaten kleinzureden. Und dies alles verpackt sie in eine hochspannende und berührende Geschichte, die dazu noch aus einer feministischen Perspektive geschrieben ist, die ganz subversiv dieses eigentlich so hypermaskuline Genre umkrempelt. Das ist beeindruckend!

Notizen zu einer Hinrichtung Danya Kukafka Andrea O’Brian (Übers.), Blumenbar 2024, 348 S., 22 €

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