1964: Stanley Kubricks Film „Dr. Strangelove“ ist eine als Komödie getarnte Tragödie
Zeitgeschichte Der durchgeknallte US-Brigadegeneral Jack D. Ripper lässt von seinem Stützpunkt aus 34 B-52-Bomber zum Atomangriff gegen die Sowjetunion aufsteigen. Am Ende fliegt in Stanley Kubricks „Dr. Strangelove“ nur eine Maschine weiter
Peter Sellers als Präsidentenberater Dr. Strangelove
Foto: Everett Collection/DDP
Dieser Film war eine als Komödie getarnte Tragödie. Dr. Strangelove oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben über einen Atomangriff auf die Sowjetunion war Blasphemie pur bei seiner Uraufführung vor 60 Jahren. Er verspottete die Gewissheit, eine Priesterschaft von Technokraten, Militärs und Politikern habe die Nuklearkriegsplanung im Griff. Das Kriegsgeschehen werde sich dank der Logik der atomaren Abschreckung managen lassen. Die eigenen Verluste blieben „begrenzt“, sollte man glauben, auch wenn Begrenzen viele Millionen Tote bedeutet.
Der 1928 geborene Regisseur Stanley Kubrick, bekannt für den Antikriegsfilm Wege zum Ruhm mit Kirk Douglas (1957), den Monumentalstreifen Spartacus (1960) und die Verfilmung des Vladimir-Nabokov-Romans Lolita (1962)
fen Spartacus (1960) und die Verfilmung des Vladimir-Nabokov-Romans Lolita (1962) war Anfang der 1960er-Jahre zu dem Schluss gekommen, dass er den atomaren Wahnsinn nur durch eine mit Irrsinnigen besetzte Satire auf die Leinwand bringen konnte. Dr. Strangelove kam am 29. Januar 1964 in die amerikanischen Kinos. In der Bundesrepublik Deutschland lief das Werk ein paar Monate später an.Major T. J. „King“ Kong schwenkt den Cowboyhut und reitet die BombeEs spielten meisterhaft Peter Sellers (gleich in drei Rollen, unter anderem als Präsidentenberater Dr. Strangelove, ein deutscher Wissenschaftler mit Nazi-Vergangenheit wie viele Mitbegründer des US-Raketenprogramms), George C. Scott als kommunistenfressender Luftwaffengeneral Buck Turgidson sowie Slim Pickens als Major T. J. „King“ Kong, der es sich nicht nehmen lässt, beim Angriffsflug den offenbar beschädigten Bombenschacht zu reparieren. Und das mit Erfolg: Kong reitet die Bombe jubelnd und einen Cowboyhut schwenkend hinein in die finale Katastrophe. Aber vielleicht doch nicht final: Denn ein paar hunderttausend Menschen könnten in tief gelegenen Bergwerksschächten überleben, denen Nuklearreaktoren „fast unbegrenzt Energie liefern“, versichert Dr. Strangelove, dessen versteifter rechter Arm sich gelegentlich, offenbar unkontrollierbar, zum Hitlergruß erhebt. Man könne bei einer Relation von zehn Frauen pro Mann außerdem mit diesen Geretteten ein Aufzuchtprogramm durchziehen.Placeholder image-1Es war Kalter Krieg, vorsichtig gemildert durch die Rüstungskontrollabkommen zwischen den USA und der Sowjetunion. Auch gab es ab 1963 ein begrenztes Verbot von Kernwaffentests. In den 1950er-Jahren hatten die beiden Großmächte angeblich zum Zweck gegenseitiger Abschreckung riesige Nukleararsenale angelegt. Die US-Atomkriegspläne sahen vor, Hunderte von Städten und Militäreinrichtungen in den Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes zu zerstören. Gleiches war China zugedacht. Doch drohten die USA und Westeuropa ebenfalls vernichtet zu werden, sollte die UdSSR im Fall eines Angriffs den Gegenschlag führen.1962 war die Welt mit viel Glück bei der Kuba-Krise an einem Atomkrieg vorbeigeschlittert. In den Vereinigten Staaten hatten Schulkinder gelernt, sie könnten bei einem Kernwaffenangriff, den man an einem hellen Blitz erkenne, unter ihren Pulten Schutz suchen, wie es in dem Regierungslehrfilm Duck and Cover hieß. Der Rat kam von einer Schutzhelm tragenden animierten Schildkröte: „Denkt daran, Freunde ... was ihr tut, wenn ihr den Blitz seht ... duck and cover.“ In Deckung gehen und sich zudecken, lautete das Gebot. Wer heute im Rentenalter ist, erinnert sich.Eingebetteter MedieninhaltDie Geschichte, die der in Schwarz-Weiß gehaltene Streifen Dr. Strangelove erzählt, beginnt so: Brigadegeneral Jack D. Ripper (Name in Anlehnung an den britischen Serienmörder Jack the Ripper) vom Burpleson-Stützpunkt erteilt Befehl, seine 34 B-52-Atombombenflugzeuge sollten die Sowjetunion angreifen. Die Entscheidung über Krieg könne man nicht den Politikern überlassen. „Sie haben weder die Zeit noch das Training noch die Neigung zu strategischem Denken“, begründet der Zigarre kauende Ripper, gespielt von Sterling Hayden. Er werde die laufende „kommunistische Infiltrierung, kommunistische Indoktrinierung, kommunistische Subversion und die internationale kommunistische Verschwörung“ nicht länger hinnehmen. Ripper lässt seinen Stützpunkt abriegeln. Niemand soll seine Pläne vereiteln.Aufputschmittel, Kaugummi, Kondome, russisches Wörterbuch und die BibelDer Rest des Filmes zeigt vor allem die Angriffsvorbereitungen in Major Kongs B-52. Die Besatzung prüft die Überlebens-Kits, darunter Munition, eine Schusswaffe pro Person, Aufputschmittel, Kaugummi, ein russisches Wörterbuch im Kleinformat, eine Bibel und Kondome. Der Schluss des Films handelt von Versuchen, Rippers Angriffsbefehl rückgängig zu machen und die Bomber zum Umkehren zu bewegen. Es herrscht Chaos. Offizier Lionel Mandrake (Peter Sellers) auf Burpleson lässt trotz Warnungen, er dürfe Privateigentum nicht beschädigen, einen Getränkeautomaten aufschießen, um an das Kleingeld für ein Telefongespräch mit Präsident Merkin Muffley (ebenfalls Sellers) zu kommen. Er wird sich nach dem Krieg beim Coca-Cola-Konzern verantworten müssen. Muffley wundert sich über einen Atomangriff ohne seine direkte Order. Er habe angenommen, er als Präsident werde entscheiden. Im Prinzip sei das so, räumt Berater Turgidson ein, doch gäbe es einen „Notfallkriegsplan“, dem zufolge untergeordnete Offiziere nukleare Vergeltung anordnen dürfen. „Sie haben ihn bewilligt, Sir“, erläutert Turgidson.Die Filmkritik in der New York Times konnte sich nicht festlegen. Vieles im Film sei „brillant und lustig“, vieles „besorgniserregend und gefährlich“. Er sei verstört von der Verachtung für „unser gesamtes Verteidigungsestablishment“, einschließlich des Präsidenten, so der Rezensent. Im Vorspann ließ das Studio Columbia Pictures den Text laufen, die Luftwaffe versichere, dass Sicherheitsmaßnahmen die im Film dargestellten Ereignisse verhindern würden.Zum 50. Jahrestag von Dr. Strangelove detaillierte Eric Schlosser, Autor des vielbeachteten Buches über die Befehlsgewalt bei Kernwaffen Command and Control: Nuclear Weapons, the Damascus Accident and the Illusion of Safety (2013), im Magazin New Yorker, Dr. Strangelove sei nicht weit weg gewesen von der Realität. In den 1950er- und 1960er-Jahren habe die US-Regierung vor dem Dilemma gestanden: Einerseits musste der Einsatz von Atomwaffen strikten Vorschriften unterliegen, andererseits durfte man nicht zu abhängig sein von einem Befehl des Präsidenten, wolle man handlungsfähig sein. Dwight Eisenhower (im Amt 1953 – 1961) habe bestimmten Offizieren den Einsatz von Nuklearwaffen in extremen Fällen ohne Rücksprache mit dem Weißen Haus genehmigt. Der Historiker Bernd Greiner, Experte zu Atomkriegsplänen im Kalten Krieg, äußerte im Journal Zeithistorische Forschungen Vorbehalte. Kubrick verschenke „die Pointe der Abschreckungspolitik. Es bedurfte keiner verrückten Einzelgänger, um das ‚Gleichgewicht des Schreckens‘ aus der Balance zu bringen.“ Das System sei aus sich heraus störanfällig genug gewesen. Die Hauptgefahr sei wohl nicht von „kriegslüsternen Militärs“ ausgegangen, sondern von um ihre Glaubwürdigkeit besorgten Politikern.Die „Doomsday Clock“ des „Bulletin of the Atomic Scientists“Am Ende lassen sich im Film nicht alle B-52-Bomber zurückrufen. Präsident Muffley hat die Wahl zwischen „zwei zugegebenermaßen bedauerlichen und dennoch unterscheidbaren Szenarien für nach dem Krieg“: Eines mit 20 Millionen Toten und eines mit 150 Millionen. Muffley will nicht als der größte Massenmörder seit Adolf Hitler in die Geschichtsbücher eingehen. Er lässt im Kreml anrufen und spricht mit dem sowjetischen Premier „Dimitri“, um den zu ermahnen, es sei jetzt nicht die Zeit, „hysterisch zu werden“.Rettung ist nicht möglich. Sowjetbotschafter de Sadesky (Peter Bull) informiert Muffley, in seinem Land stehe eine computergesteuerte Weltuntergangsbombe bereit, die nach einem atomaren Angriff alles Leben auf Erden vernichten würde. Beim Versuch, den Mechanismus auszuschalten, würde die Einrichtung ebenfalls wie geplant funktionieren. Der Film endet mit explodierenden Atombomben.Das Wissenschaftlermagazin Bulletin of the Atomic Scientists veröffentlicht seit 1947 die „Doomsday Clock“, eine symbolische Weltuntergangsuhr. Sie soll anzeigen, wie nahe die Menschheit vor der Selbstzerstörung steht. 1963, als Kubrick an Dr. Strangelove arbeitete, stand die Uhr auf zwölf Minuten vor Mitternacht. 2023 waren es noch 90 Sekunden. Eine globale Katastrophe ist näher als jemals zuvor.Eingebetteter Medieninhalt
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.