USA: Das Oberste Gericht ist die Machtreserve für das rechte Amerika

Konservativer Backlash Abtreibungsverbote, Diskriminierung von LGBT: Politisch lassen sich diese Forderungen nicht durchsetzen. Deshalb verlässt sich die Rechte in den USA für ihre Agenda immer häufiger auf den Supreme Court
Ausgabe 29/2023
Neutralität in schwarzer Robe? Nicht am Obersten Gericht in den USA
Neutralität in schwarzer Robe? Nicht am Obersten Gericht in den USA

Foto: Olivier Douliery/AFP via Getty Images

Die neun vermeintlich neutralen Schiedsrichter in schwarzer Robe werden manches demokratische Vorhaben noch viele Jahre blockieren. Dies gilt für den Klimaschutz, LGBT-Anliegen, Wirtschaftsreformen oder das Wahlrecht, die Religionsfreiheit und Familienplanung. Diese Richterinnen und Richter amtieren, bis sie zurücktreten oder sterben. Eine Einflussnahme auf die „freie Wirtschaft“ wird skeptisch gesehen von der rechten Mehrheit des Obersten US-Gerichts – die auf das Schlafzimmer und die Privatsphäre hingegen forciert. Davon profitieren rechtskonservative Christen und Unternehmen, die keine Lust auf Regierungsvorschriften haben und sich freuen über ein Urteil, das die Befugnisse der Umweltbehörde EPA begrenzt. Diese Rechtsprechung stützt Waffenliebhaber und weiße Bürger, die im Namen der Farbenblindheit so tun, als sei Diskriminierung bei Wahlen und im Alltag der USA eine Sache der Vergangenheit.

Der abgewählte Präsident Donald Trump hatte nicht viel Glück beim Versuch, das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2020 auf dem Gerichtsweg auf den Kopf zu stellen. Doch mithilfe des Obersten Gerichts hat das rechte Amerika in den vergangenen Jahren Entscheidungen getroffen, die sich zuvor politisch kaum durchsetzen ließen. Trumps „Make America Great Again“, das Zurückstellen der Uhren auf das vermeintlich großartige Amerika vor Jahrzehnten, wird vom Obersten Gericht als Maxime begriffen. Dies geschieht umsichtig, die institutionelle Würde wahrend, mit einem Schritt nach dem anderen. Zwei „große Urteile“ gab es im Juni zum Ende der Sitzungsperiode. In einem ging es um die Aufnahmepraxis von Universitäten. Die Zeit, Rasse in Erwägung zu ziehen, sei vorbei, schrieb das Gericht. In der jüngsten Vergangenheit hatten sich Hochschulen bei der Zulassung am Prinzip orientiert, dass bestimmte Gruppen benachteiligt seien und Diversität allen Studierenden zugutekomme. Die Aufnahme von unterrepräsentierten ethnischen Minoritäten wurde gefördert. Das diente durchaus dem kapitalistischen Projekt, konnte aber auf Kosten individueller weißer Bewerber gehen.

In einem weiteren Urteil entschieden die Richter zugunsten von Personen, die aus religiösen Gründen Kunden bestimmte Dienste verweigern. So wollte eine christliche Designerin keine Websites für Hochzeiten gleichgeschlechtlicher Paare entwerfen, weil die Ehe ein Lebensbund von Mann und Frau sei. Die Frau klagte gegen ein Gesetz in ihrem Heimatstaat Colorado, welches Diskriminierung wegen sexueller Orientierung unter Verbot stellt. Das vom Obersten Gericht ergangene Urteil öffnet nun die Tür zu religiös begründeter Diskriminierung zu einer Zeit, in der Christen in den USA ihre zahlenmäßige Dominanz verlieren. Gemeinden laufen die Mitglieder weg. Der Kirchgang ist rückläufig. Die am schnellsten wachsende „Glaubensgruppe“ besteht aus Menschen ohne Beziehung zu organisierter Religion.

Egal, wie die Wahlen ausgehen, die rechte Mehrheit am Supreme Court bleibt

Egal, ob der Demokrat Joe Biden wiedergewählt wird: Die rechte Mehrheit im Gericht – das sind fünf Männer und eine Frau, ernannt von den republikanischen Präsidenten George H. W. Bush, George W. Bush und Donald Trump –, sie bleibt. Das progressive Amerika muss das mit nostalgischem Gefühl konstatieren. Schließlich hatte ein konservativ besetzter Supreme Court einst im Namen der Verfassungstreue 1954 Bürgerrechte gegen die Segregation in Schulen verteidigt, sich 1963 im Namen der Religionsfreiheit gegen das zwangsweise Beten an Lehranstalten ausgesprochen und 1973 ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch verkündet.

Präsidenten berufen ihnen politisch und gedanklich nahestehende Richterinnen und Richter. Rechte Republikaner haben spätestens seit Ronald Reagan in den 1980er Jahren erkannt, wie wichtig das Personal des Obersten Gerichts in der Politik ist. Bei der Ernennung wird rücksichtslos vorgegangen. 2018 hat der von Republikanern kontrollierte Senat die Ernennung von Trumps Mann, Brett Kavanaugh, im Schnellverfahren bestätigt, trotz schwerer Missbrauchsvorwürfe von drei Frauen, die der Jurist bestritt. Trump macht gegenwärtig Vorwahlkampf mit dem Hinweis, es sei den drei von ihm ernannten Richtern – neben Kavanaugh Neil Gorsuch und Amy Coney Barrett – zu verdanken, wenn das Oberste Gericht im Juni 2022 das Urteil von 1973 zum Schwangerschaftsabbruch außer Kraft gesetzt hat. In 15 der 50 Bundesstaaten sind seither Abtreibungen nahezu komplett verboten, Mitte Juli erst kam Iowa hinzu. In mehreren Staaten sind Verbotsgesetze in Vorbereitung, um „ungeborene Kinder“ zu schützen, wie es heißt.

Die Obersten Richter fühlen sich sicher auf ihrem Posten. Medien haben gerade berichtet über einen rechten Milliardär, der dem konservativen Juroren Clarence Thomas Reisen und mehr finanziert hat. Zugleich wurde über Samuel Alito, den Verfasser des Anti-Abtreibungsurteils, bekannt, dass er sich einen Luxusurlaub in Alaska von einem Hedge-Fonds-Manager bezahlen ließ. Neil Gorsuch wiederum hat ein Grundstück an eine Anwaltskanzlei verkauft, deren Mitarbeiter häufig vor dem Obersten Gericht auftreten. Wie so oft bei den Republikanern vermischen sich Ideologie und finanzielle Interessen.

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