Egal ob fiktionale Serien wie Why Women Kill, Oscar-prämierte Filme wie Monster über die Serienkillerin Aileen Wuornos oder dutzende Biografien über Verbrecherinnen wie Bonnie Parker und andere: Weibliche Kriminalität regt die Fantasie der Menschen an. Die Hintergründe werden erörtert, die Umstände der Tat rekonstruiert, die Verbrecherinnen teilweise dämonisiert, teilweise als feministische Ikonen gefeiert. Verbrecherinnen polarisieren die Gesellschaft – noch viel mehr als ihre männlichen Counterparts.
Jadwiga Kamola, Sabine Becker und Ksenija Chochkova Giese haben sich mit den soziokulturellen sowie kriminalhistorischen Hintergründen der weiblichen Kriminalität auseinandergesetzt. Criminal Women. Eine Geschichte der weiblichen Kr
ine Geschichte der weiblichen Kriminalität ist anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im LA8 – Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts in Baden-Baden erschienen.In sieben wissenschaftlichen Essays beleuchten Kunst- und Wissenschaftshistoriker*innen die unterschiedlichen Aspekte der weiblichen Kriminalität. So gibt der Historiker Marcus Carrier einen Überblick über die vielfältigen Debatten des 19. Jahrhunderts über Kriminalität im Allgemeinen und die weibliche im Besonderen. Dabei wird der sozialdarwinistische Blick der Wissenschaftler deutlich: Kriminelle galten als degeneriert, mit erblicher Belastung.Bezüglich krimineller Frauen waren die Debatten besonders pathologisierend: Schon „normale“ Frauen galten in Zeiten von Menstruation, Schwangerschaft und Menopause als weniger vernünftig und stark gegenüber Männern. Kriminellen Frauen dagegen wurde die Willensfreiheit mitunter komplett abgesprochen. Bei der Lektüre wird erschreckend klar: Viele dieser Vorstellungen über Kriminalität und Weiblichkeit halten sich bis heute hartnäckig – wie das Krankheitsbild der Hysterie, das offiziell 1952 abgeschafft wurde.Keine UrlaubslektüreNach diesem eher allgemein gehaltenen Überblick geht Jadwiga Kamola in zwei Aufsätzen konkret auf die Anfänge der Kriminalphysiognomik im 19. Jahrhundert ein. Im Fokus stehen dabei die Arbeiten von Cesare Lombroso und Pauline Tarnowsky. Tarnowsky fotografierte und maß Hunderte weibliche Häftlinge in Sankt Petersburg aus und teilte ihr Archiv mit Lombroso. Sie beide typisierten die straffällig gewordenen Frauen anhand ihrer äußeren Merkmale. Das Ergebnis ihrer Analysen unterschied sich allerdings maßgeblich.Tarnowsky thematisierte in ihren Arbeiten immer wieder auch die sozialen Ursachen für den Lebensweg der Frauen und plädierte beispielsweise für bessere Bildungsmöglichkeiten. Cesare Lombroso ging hingegen davon aus, dass es „geborene Verbrecher“ gibt, was sich am Äußeren feststellen ließe. Seine Arbeiten bildeten später die Vorlage für die rassenbiologischen Theorien der Nationalsozialisten, während Tarnowsky in Vergessenheit geriet.Vom 19. Jahrhundert führt Kunsthistorikerin Bettina Uppenkamp ins biblische Zeitalter, zu einer der bekanntesten Verbrecherinnen der Weltgeschichte: Judith, die im Auftrag Gottes den Oberbefehlshaber der Syrer, Holofernes, enthauptet und so das jüdische Volk rettet. Uppenkamp zeichnet die ambivalente künstlerische Rezeptionsgeschichte der Judith nach. Einerseits verherrlichten sie die Künstler der vergangenen Jahrhunderte, andererseits basierte die Faszination auch darauf, dass Judith als brutale Mörderin auch von ihrer Sexualität Gebrauch machte.Wie häufig Frauen schon wegen ihrer Lebensführung kriminalisiert wurden, heben Sabine Becker, Frauke Steinhäuser und Kerstin Wolff in ihren jeweiligen Essays hervor. Während Becker anhand des Umgangs mit der kommunistischen Widerstandskämpferin und Künstlerin Eva Schulze-Knabe darlegt, wie politisch agierende Frauen im Nationalsozialismus unterdrückt wurden, zeigt Frauke Steinhäuser auf, wie Frauen, die sich dem Nazi-Ideal der „Mutter von Soldaten“ entzogen, verfolgt wurden.Dies betraf vor allem Vertreterinnen der Arbeiterklasse. Sie wurden mit Attributen wie „verwahrlost“, „asozial“ und „gemeinschaftsschädlich“ gebrandmarkt und konnten dafür mit ihrem Leben bezahlen, da sie völlig rechtlos waren. Abschließend zeichnet Kerstin Wolff die Geschichte des Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches nach, der Abtreibungen unter Strafe stellte – vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zur Zeit der Nationalsozialisten.Criminal Women ist eine erhellende und intensive Lektüre. Wer beim Stichwort „weibliche Kriminalität“ sensationsheischende True-Crime-Geschichten erwartet hat, wird hier enttäuscht. Die Lust am Morbiden wird nicht befriedigt. Stattdessen kann sich die Leser*in beim Durcharbeiten der Texte zuweilen an die Universität zurückversetzt fühlen – samt Marker und Klebezettel. Dieses Buch ist also nichts für den Pool, wenn man einen sitzen und keine Termine hat (Anmerkung der Autorin: Glauben Sie mir, ich habe es versucht. Es war schwierig). Doch wer diese Erwartungen hinter sich lässt und sich auf ein wissenschaftliches Buch einlassen kann, den erwartet ein tolles Werk zum Einstieg ins Thema. Die Essays lesen sich zuweilen spröde, doch sind sie gleichzeitig fesselnd, da sie die Wurzeln etlicher aktueller Debatten offenlegen.So wie in den Essays von Marcus Carrier und Frauke Steinhäuser, wo erschreckende Kontinuitäten deutlich werden. Frauen werden immer noch pathologisiert, sobald sie sich dem Ideal der Weiblichkeit in welcher Art auch immer entziehen – egal, ob freiwillig oder nicht. Dabei ist zu viel – der Volksmund sagt „hysterische Zicke“ – wie auch zu wenig Weiblichkeit – bekannt als „Mannsweib“ – ein Problem. Dem Buch ist zudem hoch anzurechnen, dass es die Intersektionalität und die Mehrfachdiskriminierung von weiblichen Minderheitsangehörigen nicht außer Acht lässt, beispielsweise wie die Lehren der Physiognomik bis heute bei „Racial Profiling“ nachwirken.Criminal Women. Eine Geschichte der weiblichen Kriminalität bietet den Leser*innen einige Aha-Erlebnisse. Mit 160 Seiten und einem 32-seitigen Bilderteil in Farbe ist das Buch kein Wälzer, gleichzeitig bleibt es nicht oberflächlich. Die Essays erfordern eine konzentrierte Lektüre. Dabei sind kleine Unterbrechungen förderlich, um das Bildmaterial zum Text zu studieren. Aber es lohnt sich. Vor allem, weil das Thema weibliche Kriminalität endlich auch aus einer weiblichen Perspektive beleuchtet wird. Interessant wäre es aber gewesen, mehr über die Rezeptionsgeschichte anderer Verbrecherinnen zu erfahren. Diese Informationen finden sich in der Ausstellung im LA8 in Baden-Baden und ergänzen somit die Lektüre.Das alles schlägt einen schnöden True-Crime-Podcast allemal.