Der rechte Geist wächst weiter

Chemnitz Die mediale Aufmerksamkeit für Chemnitz ist weitestgehend wieder vorbei, doch die rechte Szene ist dort bestens vernetzt und wächst ununterbrochen

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Kunst in Chemnitz von Rainer Opolka
Kunst in Chemnitz von Rainer Opolka

Foto: Jens Schlueter/Getty Images

Kaum zwei Wochen nach den Ausschreitungen und rechten Demonstrationen in Chemnitz scheint die Stadt wieder merkwürdig ruhig. Familien gehen auf dem Wochenmarkt einkaufen, Jugendliche ziehen durch das Einkaufszentrum, Touristen machen Selfies vor dem Karl-Marx-Monument; dem Nischl, wie die Einwohner sagen. Nur noch zwei große Plakate erinnern an dieser Stelle daran, was sich in letzter Zeit in Chemnitz abgespielt hat. Ein älterer Herr bleibt stehen, zieht sein Mobiltelefon aus der Westentasche und macht ein Foto. Er, Michael Beyerlein, ist kein Tourist, der das bekannte Wahrzeichen ablichten möchte. Er fokussiert auf den bunten Spruch, der seit kurzem darunter klebt: „Chemnitz ist weder grau noch braun“.

Beyerlein stammt eigentlich aus Franken, sein breiter Dialekt offenbart das sofort. Dort war er jahrelang in der rechtsradikalen Szene aktiv. Teile seiner Familie waren überzeugte Nazis; als junger Erwachsener hatte Beyerlein als Reisebusfahrer das Gefühl, dass Deutsche im Ausland unbeliebt seien. Als sich 1983 die rechte Partei „Die Republikaner“ gründete, wurde er neugierig. Eigentlich habe er damals alles gehabt, erzählt er schulterzuckend, sei dennoch ständig unzufrieden gewesen. Immer wieder habe er sich die Frage gestellt, warum er nicht stolz sein dürfe auf Deutschland. Bei den Republikanern habe er Anerkennung von Gleichgesinnten bekommen und eine neue Heimat, durfte endlich sagen, was er denkt. Er gestaltet Flugblätter für die Partei, hängt Plakate mit ausländerfeindlichen Parolen auf, nimmt an rechten Demonstrationen teil; steigt zum Bezirksvorsitzenden auf.

Als Beyerlein dann Ende der 90er über einen Freund einen kanadischen Pastor kennen lernt, findet er nach und nach zum Christentum, kann seine politischen Überzeugungen nicht mit dem Glauben vereinbaren. Der Ausstieg aus dem Rechtsradikalismus gelingt ihm schlussendlich, nach dem er eine Geflüchtetenunterkunft besucht. Er distanziert sich von der Szene, studiert Theologie und wird selbst in der Flüchtlingshilfe aktiv.

Seit der Wiedervereinigung stoßen rechte Parteien in Ostdeutschland auf fruchtbaren Boden

Seit 2013 lebt Michael Beyerlein als Pastor und Flüchtlingsbeauftragter in Sachsen, hat die Chemnitzer Brücke mit aufgebaut, eine Begegnungsstätte für Deutsche und Migranten. Die Ereignisse in Chemnitz überraschen ihn nicht. „Die Leute folgen den Rechten aus denselben Gründen, aus denen ich ihnen damals gefolgt bin. Sie fühlen sich im Stich gelassen, nicht gehört, rechte Parteien nehmen ihre Probleme scheinbar als einzige wahr.“ Viele Menschen in Sachsen sähen sich als Verlierer des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland nach der Wende, meint Beyerlein. Es sei ihnen viel versprochen worden, aber das meiste nicht eingehalten.

Beyerlein hält inne und schlägt vor, den wenige hundert Meter entfernten Ort zu besuchen, an dem Daniel H. getötet wurde. Auf dem Weg dorthin erzählt er, dass westdeutsche Neonazis nach der Wiedervereinigung gezielt auf die neuen Bundesländer angesetzt wurden. Heute sei die Szene in Ostdeutschland besser vernetzt als je zuvor. Die aktuellen Bilder, in denen die AfD Schulter an Schulter mit Pegida und „Pro Chemnitz“ marschieren, bilden lediglich einen neuen Höhepunkt des Zusammenschlusses rechter Kräfte.

Vor dem Tatort, der mittlerweile zu einer Gedenkstätte geworden ist, stehen mehrere Passanten. Immer wieder bleiben neue Leute stehen, lesen, was geschrieben wurde, legen Blumen nieder, zünden Kerzen an. Ein Mann hält eine Mülltüte in der Hand und sammelt die ausgebrannten Teelichter ein.

Er komme jeden Tag her, erzählt der Mann und zündet sich eine Zigarette an, auch wenn er den Getöteten nicht persönlich kannte. Seine Freundin sei wie Daniel H. ebenfalls Halb-Kubanerin, beide sind sie bei den Trauermärschen mitgelaufen. Was die Medien anschließend darüber berichteten, sei in seinen Augen alles gelogen gewesen. „Die, die da den Hitlergruß gezeigt haben, waren vom Staat bezahlte V-Männer. Was hier passiert, ist friedlicher Protest, wie damals 89.“ Er zückt sein Handy aus der Hosentasche, zeigt Bilder von seinem letzten Urlaub auf Kuba. Man sieht in lachend Arm in Arm stehend mit einem dunkelhäutigen Kubaner. „Ich bin kein Nazi“, sagt er mit starkem sächsischen Dialekt, „ich bin nicht rechts. Wenn ich rechts wär, gäbe es dann diese Bilder?“

Das Vertrauen in den Staat ist vollkommen zerstört

Er ist nicht der Einzige, der immer wieder an die Gedenkstelle zurückkehrt. Eine ältere Frau steht mit einem Strauß Sonnenblumen in der Hand vor dem Meer aus Blumen und Kerzen. „Die sollen gehen, diese Ausländer“, murmelt sie. „Die stechen sich doch schon in ihren Ländern gegenseitig ab. Das brauchen wir hier nicht auch noch.“

Eine weitere Frau stimmt ihr zu. Vor drei Jahren, bevor die Flüchtlinge kamen, sei Chemnitz noch eine schöne Stadt gewesen. Jetzt könne man hier abends nicht mehr rausgehen, erzählt sie aufgebracht, während sie die Trauerstelle fotografiert. Für sie ist klar, dass Migranten krimineller sind als Deutsche. Den Statistiken, die ihr widersprechen, schenkt sie keinen Glauben. Ihre Stimme wird immer lauter, als sie behauptet, dass die Regierung sämtliche Zahlen beschönigt. Sie hat ihre eigenen: 99 Prozent der Morde und Vergewaltigungen in Deutschland würden von Ausländern begangen. Alle, die um sie herumstehen und zuhören, stimmen zu.

Es sind keine überzeugten Nazis, die so sprechen. Aber Menschen, die die Sprache und Argumente von Rechten nicht nur tolerieren, sondern mittlerweile übernommen haben – vielleicht sogar, ohne sich dessen bewusst zu sein. Und so erklärt die ältere Dame überzeugt, dass es in Sachsen keinen einzigen Nazi gäbe, während sie mit gesenktem Kopf eine ihrer Sonnenblumen niederlegt.

Die Ausmaße des Problems werden zu wenig wahrgenommen

Michael Beyerlein meint, dass dieses Tolerieren der rechten Tendenzen im Osten kein neues Phänomen sei. Was in Sachsen los sei, könne sich im Rest von Deutschland niemand vorstellen. Überall würde das Problem totgeschwiegen. Während er das sagt, schüttelt er immer wieder ungläubig den Kopf. Auf die Frage, wie man dem Rechtsradikalismus in Sachsen begegnen kann, hat auch er keine abschließende Antwort. Vielleicht, so sagt er, sei es sogar schon zu spät. Er ist sauer auf die Politik und die Medien, die dem Thema generell zu wenig Beachtung schenken würden. Mittlerweile sei man wieder zur Tagesordnung übergegangen, erste Stimmen würden bereits jetzt versuchen, die Ereignisse in Chemnitz zu Verharmlosen. „Das Thema ist bei den meisten schon wieder durch. Wo bleibt die Nachhaltigkeit?“

Dabei gibt es durchaus Widerstand. Überall in Chemnitz kleben Sticker und Plakate, auf denen Sprüche stehen wie „Herz statt Hetze“ oder „Hass ist hässlich“. Diese Stimmen seien aber, so Michael Beyerlein, in Sachsen in keiner guten Position. Er erzählt von den ständigen Anfeindungen, schon öfters habe er Hassnachrichten und Morddrohungen erhalten. Nicht wenige, die versuchen sich zu wehren, würden krank und gäben sich irgendwann geschlagen.

Die Diskussionskultur sei hier mittlerweile so zerstört, dass es kaum noch möglich sei, normal miteinander zu reden. Beyerlein hofft nun darauf, dass die Politiker das Vertrauen der Bürger wiederaufbauen, in dem sie langfristig zu dem stehen, was sie den Leuten versprechen. Und, dass sie nicht die Themen und Sprache aufgreifen, die die AfD ihnen hinwirft. „Denn dann“, merkt Beyerlein an, „werden sich die Leuten denken, dass sie auch gleich das Original wählen können.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Leonie Schöler

Gebürtige Norddeutsche, jetzt Studentin und freie Journalistin in Berlin.

Leonie Schöler

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