Ronya Othmanns Roman „Vierundsiebzig“ über den Genozid an den Êzîden: Ein notwendiges Buch
Völkermord Im August 2014 verüben Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats schwere Verbrechen an den Êzîden im Nordirak. Ronya Othmann, Tochter eines Êzîden, stellt sich in „Vierundsiebzig“ dem Unbegreiflichen. Ein erschütterndes, notwendiges Buch
Auch Jahre nach dem Angriff des IS leben noch zahlreiche Êzîd:innen als Flüchtlinge, wie hier in Dohuk im Irak
Foto: IMAGO / ZUMA Press
Um es vorwegzunehmen: Dieses Buch ist kaum auszuhalten. Doch gerade deshalb sollte man es lesen. Denn es ist ein eindrückliches Exempel für die Kraft, die Literatur noch in ihrem Scheitern aufbringen kann. Wie soll man über einen Genozid schreiben? Wie über enthauptete Kinder, versklavte und vergewaltigte Frauen, Massengräber und vollkommen zerstörte Dörfer? Ronya Othmann versucht es in ihrem neuen Buch Vierundsiebzig ganze 500 Seiten lang.
Es beginnt am 4. August 2014. Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats erobern den Nordirak. Das heißt auch: die Siedlungsgebiete der Êzîden. Es kommt zur Katastrophe, die Islamisten fallen in die Region rund um die Stadt Shingal (oder Sindschar) ein, töten Tausende Männer, verschleppen u
und um die Stadt Shingal (oder Sindschar) ein, töten Tausende Männer, verschleppen und versklaven Tausende Frauen und Kinder; Hunderttausende fliehen.Othmann versucht das Unmögliche: zu verstehen. Dieses Unterfangen führt sie weit in die Vergangenheit und in die nächste Gegenwart, nach Frankfurt, München und Berlin, nach Erbil in Kurdistan, Lalish und in andere Orte im êzîdischen Norden des Irak, ins türkisch-syrische Grenzgebiet und schließlich nach Shingal selbst. Für Othmann, selbst Tochter eines aus Syrien stammenden Êzîden, ist es auch eine Reise zur eigenen Familie, von der ein Teil in den angegriffenen Gebieten lebt und vertrieben wurde – wie etwa 400.000 Êzîd:innen, von denen ein Großteil bis heute in Flüchtlingslagern lebt.Verzicht auf Autofiktion: Ein Ich, das Ronya Othmann heißtDas Buch behauptet zwar, ein Roman zu sein, doch während Othmann in ihrem Debüt Die Sommer von 2020 noch eine Protagonistin namens Leyla zwischen sich und die Handlung schob, gibt es hier nur noch ein „Ich“, das Ronya Othmann heißt.Dieses Ich muss sich permanent selbst vergewissern: „Ich schreibe“, „Ich notiere“, „Ich lese“ und „Ich denke“. Denn: „Das Ich ist ein Zeuge. Es spricht, und doch hat es keine Sprache.“ Es ist prekär und doch der einzige Zugang zum Bewältigungsversuch. Im Grunde ist dieses Buch eine Ansammlung von Reisenotizen, Rechercheergebnissen, Bild- und Videobeschreibungen, Erinnerungen, Gesprächsmitschnitten.Die Sprache ist dabei reduziert, schnörkellos und direkt, geradezu protokollarisch. Zum Beispiel beim Besuch des Prozesses gegen das IS-Mitglied Jennifer W., die im Sommer 2015 ein fünfjähriges êzîdisches Mädchen verdursten ließ. Othmann ist zur Vernehmung der Zeugin und Nebenklägerin Nora B., der Mutter des Mädchens, angereist. An Eindringlichkeit gewinnen diese Notizen dadurch, dass Othmann hier eben nicht als Reporterin sitzt, sondern als deutsch-êzîdische Schriftstellerin. „Nora B. ist klein und dick, wie meine Tante.“ Und: „Nora B. spricht kurdisch wie meine Tante, aber einen anderen Dialekt, den Dialekt meiner Verwandten aus Shingal.“ Das lässt einen auch als Leser nicht kalt. „Ich sitze in der vorletzten Reihe und weine still.“Bedrohliche Koranverse im TaxiEinen großen Teil des Buches machen Reisen in den Irak aus. 2018 und 2022 war Othmann dort, beim zweiten Mal gemeinsam mit ihrem Vater. Dank zahlreicher Kontakte kann sie dort zerstörte Dörfer besuchen, aber auch erstmals einen êzîdischen Tempel betreten. Sie spricht mit ehemaligen kurdischen Kämpfern, die bei der Niederschlagung des IS dabei waren, mit êzîdischen Frauen, die in der Gefangenschaft Unaussprechliches erlebt haben.Dabei ist die Bedrohung stets präsent. Othmann und ihr Vater werden wortkarg, als der Taxifahrer Koranrezitationen im Radio hört und wissen will, woher sie kommen und wohin sie gehen. Denn mehr als deutlich wird, dass es die dortigen Muslime sind, deren Herrschaftsanspruch hier die Erde mit Blut tränkt. Die Êzîden gelten als schmutzig und ungläubig, 2014 war nicht das erste Mal, dass sie Opfer von Angriffen, Ausschreitungen und Attentaten wurden. Daher der Titel des Buches: Für die Êzîden war es der 74. Ferman – ein Wort, das ursprünglich den Erlass eines islamischen Herrschers meint, für die Êzîden jedoch bezeichnenderweise Völkermord.Êzîden, Armenier, Drusen: Geschwister im LeidMit präzisem Blick für Details bewegt sich Othmann durch die Geschichte wie entlang den Rissen einer zerbrochenen Vase. Die Êzîden sind nicht die Einzigen, die in diesen Rissen leben. Armenier, Aramäer, Christen, Drusen, sie alle wurden immer wieder Opfer von religiösem Fanatismus und Großmachtstreben, Othmann zeigt sie als Geschwister im Leid. Minderheit sein, heißt oft, sich den Schutz von Stärkeren suchen zu müssen – und diesen ausgeliefert zu sein. Nicht nur die Êzîden mussten das schmerzhaft erfahren: Der Überfall des IS war auch möglich, weil sich die kurdischen Peschmerga kurz vorher zurückzogen.Wie eine Detektivin spürt Othmann allem nach, was das Mosaik irgendwie vervollständigen könnte. Unter anderem stößt sie dabei auf die Schriften des britischen Archäologen Austen Henry Layard, der im 19. Jahrhundert in Mesopotamien unterwegs war. Seine Beschreibungen der religiösen Zeremonien, der Gastfreundschaft und Reinlichkeit der Êzîden, aber auch der Angriffe, belegen auf bewegende Weise die lange geschichtliche Tradition von Verfolgung und Durchhaltewillen.Immer wieder stellt Othmann ihr Projekt selbst infrage. „Es ist zu viel, denke ich. Ich frage mich, wer wird das lesen wollen? Ich verbiete mir diese Frage.“ Was nichts daran hindert, dass sie ihr immer wieder gestellt wird. „Ich habe keine Antworten auf diese Fragen. Ich habe nur geschrieben.“ Man muss ihr dafür dankbar sein.
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