Französische Umweltbewegung darf nicht aufgelöst werden: Der Aufstand geht weiter
Les Soulèvements de la terre Eine Schlappe für die Regierung: Am 11. August hat der Verfassungsrat die Auflösung der Umweltbewegung „Les Soulèvements de la terre“ ausgesetzt. Wer sind die als „Ökoterroristen“ diffamierten Aktivisten? Ein Roadtrip in die Alpen
Die „Soulèvements“ errichten Blockaden und vermummen sich. Aber Achtung: An dem Juni-Wochenende gingen Gendarme am brutalsten gegen jene vor, die ihre Gesichter nicht zeigen wollten
Fotos: Émilie Désir
Das Dorf La Chapelle mit seinen 330 Einwohnern liegt im Tal von Saint-Jean de Maurienne, auf halber Strecke zwischen Lyon und Turin. Bis zur italienischen Grenze sind es 50 Kilometer. Der kleine Fluss L’Arc verläuft zwischen der Zugtrasse und der Autobahn, auf der Lastwagen durch das Tal rauschen. Hier hat, an einem hochsommerlichen Wochenende im Juni, die derzeit umstrittenste Umweltbewegung Frankreichs ihre Zelte aufgeschlagen: Les Soulèvements de la terre („Aufstände der Erde“). Es ist kurz nach elf, als Stanislaw und Armaud per Mitfahrgelegenheit aus Chambéry zum Protestcamp unterwegs sind.
Trotz brütender Hitze tragen die Jungs ihre langärmeligen Blaumänner. „Wenn wir alle Blau tragen, macht es den Bullen die Identifizierung s
Bullen die Identifizierung schwerer.“ Dazu kommen Taucherbrille und FFP3-Maske gegen das Tränengas. Die beiden Endzwanziger aus Lyon sind als Mitglieder der revolutionär-anarchistischen Gewerkschaft CNT quasi Profi-Protestler, zuletzt während der Streiks gegen die Rentenreform von Emmanuel Macron. Trotzdem herrscht angespannte Vorfreude im Auto. Denn die Soulèvements müssen im Alpental vor allem mit einem rechnen: Gewalt. Als die ersten schneebedeckten Bergkuppen auftauchen, ruft Stanislaw euphorisch: „La Montaaaaagnnneee!“, und reckt die Zeigefinger in die Höhe wie bei einem Rockkonzert. Um genau diese Berge geht es den Aktivisten in ihrem Protestaufruf. Seit über 30 Jahren wird hier an einem Tunnel gebaut, der ab 2030 als längster in ganz Europa in Betrieb gehen soll. 57 Kilometer durch das Alpenmassiv, um den Frachtverkehr zwischen Frankreich und Italien auf die Schiene zu verlegen. Die Umweltaktivisten argumentieren, dass das Ökosystem der Region durch das geschätzt 30 Milliarden Euro teure Projekt nachhaltig beschädigt und die Grundwasservorkommen zerstört werden. Die Befürworter, allen voran die Betreibergesellschaft TELT, verkaufen den Tunnel als CO₂-sparende Alternative und einen Wirtschaftsmotor für die Region beidseits der Grenze.Die Antifa wird blockiert„Die Soulèvements de la Terre? Das ist eine Bewegung, eine Art zu denken und keine Organisation“, sagt Stanislaw auf den letzten Kilometern vor dem Ziel mit einem breiten Lächeln. „Die Regierung macht sich total lächerlich, wenn sie von Auflösung spricht. Eine Bewegung aufzulösen, wie soll das gehen?“ Der Gruppierung haben sich mittlerweile hunderte Vereine, lokale Gruppen, Parteien und große Umweltorganisationen wie Attac oder Greenpeace angeschlossen. Aber auch Wissenschaftler, Kulturschaffende, Landwirte und Gewerkschaften. Sind sie also ein Kollektiv, eine Aktionsplattform, eine Koalition? Innenminister Gérald Darmanin hat sich bereits festgelegt: Für ihn handelt es sich um „écoterrorisme“, Öko-Terrorismus, dem der Staat mit anti-terroristischen Methoden zu begegnen hat. Dabei ist kaum etwas bekannt über die Anhänger. Nur das: Ihr Protest hat Anfang 2021 begonnen.Viele von ihnen sind in „zones à défendre“ aktiv, in „Verteidigungszonen“, die als Aktivistendörfer aus Baumhäusern, Zelten und Hütten auf dem Land errichtet werden. Vorrangig aus Protest gegen große Bauprojekte, zum Beispiel einen Flughafen bei Nantes. Es geht aber auch um neue Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens, um eine antikapitalistische, antiautoritäre Vision der Gesellschaft und um neue landwirtschaftliche Anbaumethoden.Angekommen im Camp, laufen die Briefings zum Ablauf des Tages, übersetzt auch auf Italienisch und in Gebärdensprache. Es geht um die richtigen Reflexe, wenn Blendgranaten und Tränengas zum Einsatz kommen. Es geht darum, wie man sich in Untersuchungshaft verhält, welche Anwälte heute für juristische Fragen bereitstehen und um die italienischen Antifa-Genossen, die hinter der Grenze von der dortigen Polizia blockiert werden. Einige linke Abgeordnete der Nationalversammlung sind gekommen. Die Schärpen in Trikolore-Farben wirken fehl am Platz. Doch um die Symbolik ihrer Präsenz wissen hier alle.Nicht zuletzt muss irgendwer mit dem Präfekten verhandeln, wie, wann und wo man nun eigentlich demonstrieren darf. Die UNO hat Frankreich schon vor den jüngsten Vorfällen in den Vorstädten wegen exzessiven Einsatzes von Gewalt, auch bei Demonstrationen, abgemahnt. „Wir sehen eine stetig repressiver agierende Staatsmacht“, sagt Mathilde Panot, die als Nachfolgerin von Jean-Luc Mélenchon die Fraktion der Linkspartei France Insoumise anführt. „Diese Gewalt, die wir schon gegen die Gelbwesten gesehen haben, aber vor allem in Sainte-Soline, ist eine echte Gefahr für die Demokratie.“Der blutige Fleck MacronsDa ist es wieder: Sainte-Soline. Ein Reizwort in ganz Frankreich. Der blutige Fleck inmitten all des Greenwashings der Macron-Regierung. Und jener Moment, als die Umweltbewegung je nach Sichtweise endgültig in Ungnade gefallen ist oder aber zu den neuen Helden des Widerstands wurden. Am 25. März war es in dem kleinen Ort in Westfrankreich zu einer beispiellosen Schlacht mit der Polizei gekommen. Hintergrund war der Protest gegen den Bau von riesigen Wasser-Rückhaltebecken für die Landwirtschaft. Tausende Aktivisten aus ganz Europa waren angereist, am Ende wurden Dutzende teils schwer Verletzte auf beiden Seiten gezählt. Seit diesem Tag war die Gruppe zum Staatsfeind Nr. 1 geworden. Dass extrem linke Gruppen die Umweltschützer bei ihren Aktionen begleiten, Gruppen, die die Konfrontation mit der Polizei suchen und damit die Sicherheitsbehörden auf den Plan rufen, ist eigentlich kein Geheimnis. Auch im Alpencamp stehen einige wie selbstverständlich vermummt an der Essensschlange oder vor den selbst gezimmerten Klos. Nur sucht man in Frankreich vergebens nach Stimmen, die eine deeskalierende Strategie der Ordnungskräfte vorschlagen. Dass Gewalt an Gegenständen oder das Eindringen in Fabriken zum Modus operandi der Gruppe gehört, kann man in vielen ihrer Publikationen lesen. Und so schützen an diesem Wochenende 2.000 Polizisten alle zum Tunnelprojekt gehörenden Zugänge, Baustellen und Unternehmen.Placeholder image-1Für den Tross von mittlerweile fast 4.000 Aktivisten, die sich gegen 13 Uhr in Bewegung setzen, ist deswegen schon nach zwei Kilometern hinter dem Startpunkt Schluss. Es hat etwas Geisterhaftes, wie das Meer aus Wimpeln, Fahnen und blau gekleideten Menschen mit ihren Taucherbrillen auf der Nationalstraße Halt macht, während die Gendarmen das Geschehen hinter ihren Schutzschildern von der nächstgelegenen Brücke beobachten. Etwas abseits amüsiert sich eine Gruppe junger Einheimischer aus dem Nachbardorf Épierre. Anaïs, mehr Mädchen als Frau, imitiert einen Scharfschützen und zielt auf zwei Vermummte, die gerade eine Handvoll Pflastersteine von den Bahngleisen pflücken. „Von hier würde man sie super treffen!“ Ihr Freund Florian, 30, schüttelt den Kopf: „Das sind Leute, die kommen von irgendwo her und wollen uns vorschreiben, was bei uns gebaut werden soll und was nicht. Das sind Spinner! Der Tunnel ist doch so gut wie fertig und so wie ich haben echt viele Leute hier Arbeit auf den Baustellen gefunden. Die Firmen haben sich am Bau von ‘nem Schwimmbad und Parkplätzen beteiligt. Das bringt uns hier wirtschaftlich total voran.“Tränengas abwaschenNach über zwei Stunden Stillstand gibt es wirklich etwas zu gucken: Die Demonstrierenden haben entschieden, auf die Brücke zu laufen – in die Arme der Polizei. Marc Pascal ist ein seit langer Zeit aktiver Grüner und redet auf die vorderen Reihen ein. „Es muss gewaltfrei bleiben. Wir dürfen uns nicht provozieren lassen.“ Die Abgeordneten diskutieren noch mit einem Polizeisprecher über eine alternative Strecke. Zwei Kilometer mehr wünscht man sich, doch es bleibt beim „NON“. Und dann, wie auf ein unsichtbares Zeichen, geht es plötzlich los: Erste Steine fliegen in Richtung Polizei, die mit Tränengas antwortet. Armaud bildet mit anderen zunächst die vorderste Reihe. Gegen Unvermummte wird weniger hart geschossen. Es ist ein Vor- und Zurück wie in einem Stellungskampf. Rauchschwaden steigen auf wie im alpinen Morgennebel. Über allem kreist ein Helikopter durchs Tal.Schließlich schaffen es einige trotz erheblicher Strömung durch den Fluss, rüber auf die Autobahn, die gesperrt werden muss. Von allen Seiten wird gejubelt. Ein kleiner Erfolg. Immerhin. Vom Camp aus postet eines der Teams dutzende Fotos, Drohnenaufnahmen, Stellungnahmen. Um die 40 Aktivisten kümmern sich allein um die Kommunikation, die Deutungshoheit der letzten Stunden. Es gebe mindestens 50 Verletzte auf Seiten der Aktivisten, sagt Pina, die Sprecherin, die nichts über sich preisgibt. Für die Eskalation trage der Präfekt allein die Verantwortung: „Wir machen Abstimmungen in Komitees, in wechselnden Rollen. Es gibt eine horizontale Entscheidungsstruktur, keine Anführer, keine undemokratischen Entscheidungen.“ Ein paar hundert Leute springen auf dem Rückweg noch spontan in einen Tümpel am Dorfrand, um sich die klebrigen Reste des Tränengases abzuwaschen. Ein Woodstock-Moment, klatschend, jubelnd und singend. Dann trudeln sie nach und nach wieder im Camp ein. „Das Baden war der magischste Moment überhaupt“, schwärmt Stanislaw. „Das ist das Geniale hier, es gibt ein Miteinander, eine Freude an dem Moment, einen gemeinsamen Spirit. Du kommst mit allen ins Gespräch, triffst Bekannte, findest neue Freunde.“Auch Greta ist an BordAls der Abend anbricht, wird Essen aus riesigen Töpfen gereicht: Salate, Gemüseragout, Couscous, Brot. Alles frisch zubereitet von Dutzenden Helfern, die hunderte Teller befüllen und Besteck verteilen. Auch das gehört zur Philosophie: sich für die Gemeinschaft engagieren, wenn es sein muss beim Kartoffelschälen oder Abwaschen. Auf Diversität und Inklusion Wert legen, eine Notfallnummer für Opfer sexualisierter Gewalt anbieten, Minderheiten einen Safe Space bieten. Man will der Zerstörung der Natur Achtsamkeit entgegensetzen, will Respekt und Toleranz vorleben, will es untereinander besser machen als in der Welt da draußen. Derweil suchen Leute auf selbstbemalten Schildern schon nach Mitfahrgelegenheiten gen Heimat.Placeholder image-272 Stunden später, als Armaud und Stanislaw wie die hunderte anderen längst wieder zu Hause sind, ist es soweit: Innenminister Gérald Darmanin verkündet die „Auflösung“ der Soulèvements. Von jetzt an drohen allen, die sich auf die Gruppe beziehen, deren Namen oder Logo verwenden, die sie direkt oder indirekt unterstützen, Geldstrafen bis hin zu Gefängnis. Am gleichen Abend, es ist der 22. Juni, gehen Zehntausende Menschen in 110 Städten im Land spontan auf die Straße, auch Greta Thunberg, die gerade für Fridays for Futur in Paris ist, die sozialen Netzwerke laufen heiß und Anwälte werden eingeschaltet. Dann verfällt das Land in den kollektiven Sommerschlaf, es ist Urlaubszeit. Doch in vielen Regionen im Süden wird das Wasser knapp und im Norden regnet es über Maßen. Der Klimawandel kennt keine Sommerferien. Dann, am 11. August, meldet sich der Verfassungsrat zu Wort und äußert Zweifel an der Argumentation der Regierung gegen die Umweltschützer. Vorerst setzt er die Auflösung der Soulèvements aus, bis zu einer endgültigen Entscheidung. Neue Aktionen für den Herbst sind indes schon angekündigt. Was überall weiter wächst, lässt sich nicht auflösen. Der Aufstand geht weiter.