Paris rätselt

Terror Die Reaktionen auf den Mord an vier Polizisten zeigen, wie verunsichert die Franzosen nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo nach wie vor sind
Ausgabe 41/2019
Der französische Innenminister Christophe Canaster bei einer Trauerfeier am 8. Oktober 2019
Der französische Innenminister Christophe Canaster bei einer Trauerfeier am 8. Oktober 2019

Foto: Ludovic Marin/AFP/Getty Images

Schwarze Särge. 51 Stück. Attrappen, im Halbkreis aufgereiht und wie Schutzschilde hochgehalten von Polizeibeamten auf der Place de la Bastille. Erinnern sollen sie an ihre 51 Kollegen, die sich seit Jahresbeginn das Leben genommen haben, nicht selten mit der eigenen Dienstwaffe.

Auch für die französischen Medien war es ein ungewohntes Bild, als am letzten Mittwoch 22.000 Demonstrierende landesweit an der „Marche de la colère“ teilnahmen, war die Polizei doch in den letzten Monaten vor allem wegen der von ihr ausgehenden Gewalt gegen Teilnehmer der Gelbwestenproteste in die Schlagzeilen geraten. Zur gleichen Zeit saß der Informatiker Mickaël Harpon, seit 2003 im Dienste der französischen Polizei, noch in seinem Büro. Nicht einmal 24 Stunden später wird er in diesem Büro erschossen. Harpon hatte zuvor vier seiner Kollegen mit einem Messer erstochen.

Als die Eilmeldung über die Tat eintrifft, gibt es wenige Berichterstatter, die nicht zumindest gedanklich eine Verbindung zum Protest der Polizisten herstellen. Könnte es sich um eine Verzweiflungstat handeln, die einmal mehr die Belastung und die fehlende Anerkennung „bekundet“, über die sich Tausende Beamte beklagt hatten? Als Innenminister Christophe Castaner dann an den Tatort eilt und in einem ersten Statement von einem „unauffälligen Mitarbeiter ohne jegliche Warnzeichen“ spricht, scheint der Zusammenhang zum Marsch der Wut noch nahezuliegen. Doch welcher Journalist, der in den letzten Jahren aus Frankreich berichtet hat, konnte in diesen Stunden ausschließen, dass es sich um einen islamistischen Terroranschlag handeln könnte? Seit den schrecklichen Anschlägen, auf Charlie Hebdo, auf das Bataclan, in Nizza, ist dieser Reflex einfach da. Gleichzeitig weiß jeder Reporter, dass die rechten Hetzer nur darauf warten, dass man über einen möglichen Zusammenhang zum Islam spekuliert.

Auch als am späten Abend die französische Nachrichtenagentur AFPnach Befragung von Nachbarn des Täters berichtete, Harpon sei vor geraumer Zeit zum Islam übergetreten, bleiben die Medien vorsichtig. Denn die entscheidende Information, laut derer die zuständige Staatsanwaltschaft für Terrorismusbekämpfung Ermittlungen in dem Fall aufgenommen habe, sie fehlt. Sie fehlt auch noch am Freitag, als Medien wie Le Parisien oder Le Monde immer mehr Details aus dem Täterumfeld veröffentlichten, wie die regelmäßigen Moscheebesuche und mögliche Kontakte zu salafistischen Glaubensbrüdern. Erst nach 24 Stunden schaltet sich schließlich die Behörde ein. Nun wird aus der mörderischen Attacke der Verdacht auf ein Attentat.

Vielleicht reichten die gesicherten Informationen tatsächlich nicht aus, um in den ersten Stunden von Terror zu sprechen. Vielleicht lag es auch an der schwierigen Vorstellung, ein islamistischer Attentäter sei in den eigenen Reihen nicht aufgefallen. Für die voreiligen, verharmlosenden Aussagen erntete der Innenminister jedoch massive Kritik. Wegen der vermeintlichen Sicherheitslücke in der Präfektur werden Rücktrittsforderungen lauter. Dabei zeigt sich an der Polizei nur, was die französische Gesellschaft insgesamt bestimmt: Verunsicherung und Verletzlichkeit.

Das Gleiche gilt für die Berichterstattung. Spekulationen zulassen, Verbindungslinien aufzeigen oder auf gesicherte Informationen warten und sich dem Vorwurf der Verharmlosung aussetzen? Die Schnelllebigkeit des Nachrichtengeschäfts ist grausam, mitunter verstörend. Zwischen den Sarg-Attrappen und den Morden in der Präfektur lagen kaum 24 Stunden. Erst kommen die Live-Schalten, erst später kommt etwas Licht in die Komplexität.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

Romy Straßenburg

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden