Schwarze Särge. 51 Stück. Attrappen, im Halbkreis aufgereiht und wie Schutzschilde hochgehalten von Polizeibeamten auf der Place de la Bastille. Erinnern sollen sie an ihre 51 Kollegen, die sich seit Jahresbeginn das Leben genommen haben, nicht selten mit der eigenen Dienstwaffe.
Auch für die französischen Medien war es ein ungewohntes Bild, als am letzten Mittwoch 22.000 Demonstrierende landesweit an der „Marche de la colère“ teilnahmen, war die Polizei doch in den letzten Monaten vor allem wegen der von ihr ausgehenden Gewalt gegen Teilnehmer der Gelbwestenproteste in die Schlagzeilen geraten. Zur gleichen Zeit saß der Informatiker Mickaël Harpon, seit 2003 im Dienste der französischen Polizei, noch in seinem Büro. Nicht einmal 24 Stunden später wird er in diesem Büro erschossen. Harpon hatte zuvor vier seiner Kollegen mit einem Messer erstochen.
Als die Eilmeldung über die Tat eintrifft, gibt es wenige Berichterstatter, die nicht zumindest gedanklich eine Verbindung zum Protest der Polizisten herstellen. Könnte es sich um eine Verzweiflungstat handeln, die einmal mehr die Belastung und die fehlende Anerkennung „bekundet“, über die sich Tausende Beamte beklagt hatten? Als Innenminister Christophe Castaner dann an den Tatort eilt und in einem ersten Statement von einem „unauffälligen Mitarbeiter ohne jegliche Warnzeichen“ spricht, scheint der Zusammenhang zum Marsch der Wut noch nahezuliegen. Doch welcher Journalist, der in den letzten Jahren aus Frankreich berichtet hat, konnte in diesen Stunden ausschließen, dass es sich um einen islamistischen Terroranschlag handeln könnte? Seit den schrecklichen Anschlägen, auf Charlie Hebdo, auf das Bataclan, in Nizza, ist dieser Reflex einfach da. Gleichzeitig weiß jeder Reporter, dass die rechten Hetzer nur darauf warten, dass man über einen möglichen Zusammenhang zum Islam spekuliert.
Auch als am späten Abend die französische Nachrichtenagentur AFPnach Befragung von Nachbarn des Täters berichtete, Harpon sei vor geraumer Zeit zum Islam übergetreten, bleiben die Medien vorsichtig. Denn die entscheidende Information, laut derer die zuständige Staatsanwaltschaft für Terrorismusbekämpfung Ermittlungen in dem Fall aufgenommen habe, sie fehlt. Sie fehlt auch noch am Freitag, als Medien wie Le Parisien oder Le Monde immer mehr Details aus dem Täterumfeld veröffentlichten, wie die regelmäßigen Moscheebesuche und mögliche Kontakte zu salafistischen Glaubensbrüdern. Erst nach 24 Stunden schaltet sich schließlich die Behörde ein. Nun wird aus der mörderischen Attacke der Verdacht auf ein Attentat.
Vielleicht reichten die gesicherten Informationen tatsächlich nicht aus, um in den ersten Stunden von Terror zu sprechen. Vielleicht lag es auch an der schwierigen Vorstellung, ein islamistischer Attentäter sei in den eigenen Reihen nicht aufgefallen. Für die voreiligen, verharmlosenden Aussagen erntete der Innenminister jedoch massive Kritik. Wegen der vermeintlichen Sicherheitslücke in der Präfektur werden Rücktrittsforderungen lauter. Dabei zeigt sich an der Polizei nur, was die französische Gesellschaft insgesamt bestimmt: Verunsicherung und Verletzlichkeit.
Das Gleiche gilt für die Berichterstattung. Spekulationen zulassen, Verbindungslinien aufzeigen oder auf gesicherte Informationen warten und sich dem Vorwurf der Verharmlosung aussetzen? Die Schnelllebigkeit des Nachrichtengeschäfts ist grausam, mitunter verstörend. Zwischen den Sarg-Attrappen und den Morden in der Präfektur lagen kaum 24 Stunden. Erst kommen die Live-Schalten, erst später kommt etwas Licht in die Komplexität.
Kommentare 3
Es ist tatsächlich rätselhaft, dass die Polizei Frankreichs, in schöner Regelmäßigkeit und alle Dezennien wieder, sowohl mit der Gewalt gegen BürgerInnen, als auch mit der Binnenkultur, die offenbar zu einer deutlich gesteigerten Suizidrate (38%) gegenüber der der DurchschnittsbürgerInnen führt, große Probleme hat, Frau Straßenburg.
Der Fall Mickaël Harpon treibt die Verrätselung noch weiter. Seine Teil-Behörde, obwohl der recht unabhängigen Pariser Polizei angegliedert, wirkt wohl eher außenseiterisch, denn sie stammt aus den Jahren der geheimdienstlichen Parteibeobachtung in Frankreich. - Das allein kann es aber nicht sein. Täterpsyche, Arbeitsplatzstruktur und persönliches Umfeld müssen wohl zusammenkommen, um eine solche Täterpersönlichkeit reifen zu lassen.
Vielleicht ist es im Zusammenhang mit den Polizisten- Suiziden einmal ganz interessant, ein par empirische Zahlen anzuschauen. Frankreich hat schon lange, verglichen mit Deutschland, eine höhere allgemeine Suizidrate. Bei Männern beträgt sie ca. 19/100.000 Einwohner/Jahr. Die der Frauen liegt bei ca. 6/100.000/Jahr. Nach WHO- Angaben(2016), liegt die Durchschnittsrate bei ca. 17/100.000 EW/Jahr, womit Frankreich, zusammen mit der Schweiz, vor anderen europäischen Ländern liegt, aber nicht die Zahlen Litauens, Russlands oder Südkoreas, um oder über 30 Suizide/100.000/Jahr, erreicht. Die Finnen (die mit den langen Nächten), denen man immer wieder einmal unterstellt, sie hätten eine deutlich höhere Suizidrate, liegen hinter Frankreich.- In ganz Frankreich töten sich jeden Tag etwa 25 Menschen
Einige Gruppen haben ein deutlich höheres Risiko, verglichen mit der Gesamtgesellschaft, selbstverständlich nicht nur in Frankreich: Jugendliche und junge Erwachsene, ältere Männer und Frauen, Männer allgemein, psychisch Kranke, besonders depressive Menschen, Drogensüchtige, Alkoholabhängige, Menschen mit "Griffnähe" zu Suizidmitteln (Ärzte,Pflegepersonal,Militär,Polizei), Einsame, Menschen unter psychischem, nicht physischem, Dauerstress, ohne ausreichende Entlastung, Wechselschichtler. - Klar, dass ein Zusammentreffen mehrerer dieser Kritierien, bei einem Menschen, das Risiko überproportional steigert. Die Aufgaben des Polizeiberufs, können eine solche Kumulation von Risikofaktoren allerdings mit sich bringen.
Bei der französischen Polizei, der Gendarmerie und der nationalen Polizei, muss es jedoch zusätzlich strukturelle Risiken geben, denn die schon lange deutlich höheren Suizidraten, mit "Schreckensjahren" in den 2000er und 2010er Jahren, verglichen mit der Allgemeinbevölkerung, trotz der recht strengen Auswahl und Voruntersuchung der Mitglieder und einer prinzipiell höheren sozialen Kontrolle in diesem speziellen Berufskollektiv, weisen darauf hin. - Ob die Ergebnisse der Senatskommission, die auch einige Vorschläge zur Prävention (Mehr Psychologen, die frei erreichbar sind und nicht eingebunden in Dienstherrschaft und Dienstweg, mehr Schulung,usw.) machte, tatsächlich nutzen, wird man wohl erst in Jahren einschätzen können.
Hinzu kommt, dass französische PolizistInnen ein erhöhtes Risiko tragen, im Beruf getötet oder verletzt zu werden, vielleicht nur vergleichbar mit dem Risiko von Waldarbeitern und Baumsteigern.
Beste Grüße und nur weiter
Christoph Leusch
PS: Ich erinnere mich an Maïwenn Bescos Polizeifilm "Polisse", der immer einmal wieder gezeigt wird. Da stürzt sich doch, gegen Ende, die gerade beförderte Kommissarin, Kommandantin (?) , während der Gruppensitzung ihrer Einheit gegen Kindesmissbrauch, aus dem Fenster des Präsidiums. Maïwenns Film spielt praktisch nur in der Arbeits- und Lebenswelt der Polizei, die zwar viel Gruppenzusammenhalt und auch privaten Austausch pflegen, aber den Suizid ihrer anerkannten Kollegin nicht verhindern können.
Mit der Schwierigkeit, die Suizidwahrscheinlichkeit gerecht einzuschätzen, kämpfen aber selbst psychiatrische Einrichtungen. Die Betroffenheit und auch Selbstzerfleischung, ob und was man alles übersehen hat, ist jedesmal groß.
ad Redaktion: Die Bildunterschrift gibt den Namen des französischen Innenministers falsch an: Nicht "Canaster", sondern Castaner, wie im Artikel.
Beste Grüße
Christoph Leusch
alle achtung zu Ihrem überraschenden ansatz!
für solche cristobal-colonische-kolumnen
lohnt sich immer wieder das aufsuchen ihrer kommentare/beiträge.