Die Doppelmoral der Sieger der Geschichte

Wende Wer keinen Staat mehr hat, mit dem ist keiner zu machen. Durch den Umgang mit Erich Honecker nach seinem Sturz wurden Maßstäbe für die politische Gegenwart gesetzt
Ausgabe 44/2019
Westdeutsche Politiker aller Lager, die dem „Staats- und Parteichef“ der DDR bis zuletzt ihre Aufwartung gemacht und von ergiebigen Gesprächen berichtet haben, setzen beim Thema Honecker eisige Mienen auf
Westdeutsche Politiker aller Lager, die dem „Staats- und Parteichef“ der DDR bis zuletzt ihre Aufwartung gemacht und von ergiebigen Gesprächen berichtet haben, setzen beim Thema Honecker eisige Mienen auf

Foto: Imago Images/IPON

Manche Bücher über den Herbst 89 in der DDR haben schwindelerregende Titel, Der Absturz (Schabowski) etwa oder Der Sturz (Andert/Herzberg über Honecker). Sie reflektieren, wie DDR-Spitzenpolitiker über Nacht öffentlicher Ächtung verfallen. Der schwerkranke Erich Honecker wird Ende Januar 1990 beim Verlassen der Ostberliner Charité verhaftet, einen Tag lang wegen Machtmissbrauchs verhört, dann wieder entlassen. Er kommt bald nirgendwo mehr unter, sodass nur privates Asyl bei einem Pfarrer in Lobetal helfen kann. Staatssicherheitsminister Erich Mielke fristet das Dasein eines Untersuchungsgefangenen und verkörpert als gebrochener Mann gebrochene Macht. In den nächsten Jahren werden Prozesse gegen ihn und Honecker, ebenso gegen Krenz, Schabowski und andere aus der interimistischen SED-Führung folgen. Was auffällt, ist das Gnadenlose, mit dem die Götzen von gestern in den Staub getreten werden. Die sich dafür verwenden – besonders in den DDR-Medien –, haben Honecker eben noch als Staatsmann und Antifaschisten gewürdigt, der unter Hitler im Zuchthaus saß. Nun wird ihm nicht nur die Schmach des Versagers, sondern auch die Schande des mutmaßlichen Verbrechers zuteil, der verfolgt gehört.

Westdeutsche Politiker aller Lager, die dem „Staats- und Parteichef“ der DDR bis zuletzt ihre Aufwartung gemacht und von ergiebigen Gesprächen berichtet haben, setzen beim Thema Honecker eisige Mienen auf. Dabei ist es erst gut zwei Jahre her, dass der Verfemte von Kanzler Kohl in der Bonner Redoute willkommen geheißen und von Franz Josef Strauß in München als kommunistisches Staatsoberhaupt mit dem bayerischen Defiliermarsch geehrt worden ist. Unbarmherzig greift das Gesetz aller Zeiten und Gezeitenwechsel: Wer keinen Staat mehr hat, mit dem ist keiner mehr zu machen. Die Amnesie, unter die der einstige Umgang mit der Person Honecker fällt, steht in der bundesdeutschen Demokratie erkennbar hoch im Kurs. Höher jedenfalls als die Bereitschaft zu Gewissen und Bußfertigkeit. Es wird zum Wettbewerbsnachteil, Charakter gegen Stimmung zu setzen. Keine taktische, vielmehr eine elementare Frage politischen Daseins, die bis heute in der Regel gleich beantwortet wird, wie das Beispiel des Libyers Gaddafi zeigt. Erst darf er Ende 2007 als bevorzugter Gast von Präsident Sarkozy sein Beduinenzelt im Garten des Élysée aufschlagen, dann sind 2011 französische Kampfjets dabei behilflich, ihn zu entmachten und einem Lynchmord auszuliefern. Helmut Kohl verfällt noch zu Lebzeiten akutem Ansehensverlust, freilich als Spendensammler, nicht wegen einer verfehlten Vereinigungspolitik. Alles andere hätte die daran beteiligten Gesinnungs- und Parteifreunde über Gebühr belastet.

Es ist eben eine Machtfrage, notfalls hemmungslosen Opportunismus walten zu lassen. Es fiel vor 30 Jahren nicht weiter auf, dass die Absolutheit im Urteil über Honecker reine Heuchelei war. Die Selbstgerechtigkeit der Sieger, ihr Anspruch, Geschichte zu schreiben, hatte berauschende Wirkung. Sie wurde erst dann zum Problem, als die Adressaten jener Delegitimierung feststellen mussten, dass sie erneut verführt und getäuscht worden waren. Es brauchte seine Zeit, bis sich das zur Gewissheit verdichtete und das Bedürfnis nach Revanche wachsen ließ. Wie das 2019 drei ostdeutsche Landtagswahlen offenbaren? Muss das der Umbruchzeit von 89 angelastet werden? Ihrer Doppelmoral schon.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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