Die zwei Seelen Europas

EU-Gipfel Das Treffen der Regierungschefs in Lettland macht deutlich, dass es Zeit wird, der Wahrheit über die „Östliche Partnerschaft“ ins Auge zu sehen
Ausgabe 22/2015
Der Ukrainische Präsident Petro Poroschenko auf dem Gipfel in Lettland
Der Ukrainische Präsident Petro Poroschenko auf dem Gipfel in Lettland

Foto: Alain Jocard/AFP/Getty Images

Häufig wird Goethes Faust-Satz „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ nur zur Hälfte zitiert und um den zweiten Teil gebracht. Er lautet: „Die eine will sich von der andern trennen.“ Die EU scheint in einer Verfassung, dass ihr solches widerfährt. Seit jeher wohnen da Anspruch und Anpassung, Wunschtraum und Realpolitik in einer Brust. Es hadern beide Seelen miteinander, sobald der Staatenbund über seine Verhältnisse lebt und sich der Geostrategie ergibt. So geschehen mit der Osterweiterung 2004, als in Osteuropa die späte Ernte der schnellen Siege von 1990 einzufahren war. Schon damals wuchs die Gefahr, sich zu übernehmen. Schien mit dem EU-Anschluss von zehn Staaten die Politische Union fraglicher denn je, sollte sie mit der Eurokrise bald ganz erledigt sein.

Zwar ging es mit der „Östlichen Partnerschaft“ ab 2008 weniger historisch zu, dafür politisch gewagter. In stetem Vorwärtsdrang robbte man nach Osten und erreichte die Ukraine, Georgien, Moldawien, Armenien, Aserbaidschan und Belarus. Jene Republiken bilden als Nahes Ausland gleichsam den weichen Unterleib der Russischen Föderation. Sie finden sich mit jener verwoben durch einen Organismus, der schon lange vor der Sowjetunion existiert hat. Wie zu erwarten, war Russland nur in Maßen entzückt, dass sich ringsherum EU- und NATO-Aspiranten sammelten.

Von geopolitischer Balance konnte in Europa längst keine Rede mehr sein. Doch erschien der EU die hegemoniale Versuchung wohl zu verlockend, um ihr abzuschwören. Niemand hatte die Absicht, Russland zu schaden. Es ging lediglich darum, es zu schwächen. Wen das in Moskau störte, verharre im Kalten Krieg, hieß es aus Berlin und Brüssel. Es müsse doch erlaubt sein, die willigen Sechs vertraglich zu assoziieren, finanziell zu alimentieren und über den Handel zu integrieren. Von Eurasien nach Europa sollt ihr gehen. Hinein in die EU womöglich. Nicht heute, aber irgendwann. Daran zu glauben geriet in Kiew, Chişinău oder Tiflis fast zur Staatsräson. Nur zeigt sich eben, wer zu naiv ist, den bestraften das Leben und ein brüsker Bescheid vom EU-Gipfel in Riga: „Östliche Partnerschaft“ heißt nicht EU-Mitgliedschaft, heißt weder Beitrittsgespräch noch -perspektive.

Dabei hatte der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin zuvor ein klares Signal für eine EU-Aufnahme verlangt. Noch lauter dröhnte die Trommel seines Präsidenten Petro Poroschenko, der sich in einem „regelrechten Krieg mit Russland“ sah und damit sagen wollte, wann, wenn nicht jetzt, muss die EU uns auffangen? Sollten „die Europäer“ das nicht verstehen, was dann? Vermutlich verstehen sie den Teil ihrer Seele wieder besser, der sich hält „an die Welt mit klammernden Organen“ (Faust). Was so viel heißt wie der Wahrheit ins Auge sehen. Und diese ermahnt, wer bei Griechenland so gut rechnen kann, sollte sich bei der Ukraine nicht verleugnen. Deren ökonomische Talfahrt geht trotz vieler Sponsoren von IWF bis EU so rasant vonstatten, dass soziale Eruptionen die Kiewer Regierung erschüttern können. Was anfangen mit einem beitrittsversessenen Bankrottbruder? Wozu sich klammern an die „pro-europäische Regierung“ Moldawiens, die eine Milliarde Euro EU-Geld achselzuckend verschwinden lässt? Wie lange warten auf die Rechtsreform in Georgien? Die „Östliche Partnerschaft“ wäre längst als Auslaufmodell entsorgt, gäbe es eine Alternative, die vor Gesichtsverlust bewahrt. Flucht vor der eigenen Courage kann Rettung vor geostrategischer Hybris und einer zerrissenen Seele sein.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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