Dschidda: Man kann ohne Russland verhandeln, aber nur mit Russland den Krieg beenden

Meinung Das Treffen in Saudi-Arabien bleibt ohne greifbares Ergebnis. Dass sich Vertreter von 40 Staaten austauschen, hat durchaus Sinn, werden realistische Ansätze für eine Waffenruhe ausgelotet. Ein ukrainischer Siegfrieden scheint nicht in Sicht
Ausgabe 32/2023
Bei Raketenangriff zerstörtes Wohnhaus in der Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine
Bei Raketenangriff zerstörtes Wohnhaus in der Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine

Foto: Oleksii Filippov/AFP/Getty Images

Es ergab Sinn, russische Diplomaten nicht nach Dschidda einzuladen. So konnte Gastgeber Saudi-Arabien verhindern, dass sich die USA, die Ukraine und EU oder auch Deutschland verweigerten. Sie hätten derzeit schwerlich mit einem Gesandten aus Russland an einem Tisch sitzen wollen – so informell oder offiziös die Veranstaltung auch immer ausgewiesen war. Opportunität und Gesichtswahrung stehen hoch im Kurs.

Andererseits hatte Dschidda nur dann einen Sinn, sofern man sich dort über Positionen austauschte, die es für Russland aussichtsreich erscheinen lassen, auf Verhandlungen einzugehen, bei denen seine Interessen respektiert werden. Man kann ohne Russland verhandeln, aber nur mit Russland den Krieg beenden.

Kontakte mit Moskau

Weil sie sich dessen vermutlich sehr wohl bewusst waren, haben die saudischen Unterhändler stets durchblicken lassen, dass sie Moskau über den Verlauf des Meetings ins Bild setzen. Ohnehin war es wohl weniger internationalem Geltungsbedürfnis oder dem Ehrgeiz eines Kronprinzen geschuldet, dass man sich zu einer solchen Staatenrunde traf. Eher bedienten die guten Kontakte Mohammed bin Salmans zur russischen Führung – zumindest unterschwellig – die Gewissheit, dass nicht allzu sehr an den Realitäten vorbei konferiert wurde.

Die Kernfrage aller Friedensdiplomatie lautet mehr denn je: Von welchen Konditionen ist es abhängig, dass sich die beiden unmittelbaren Kriegsparteien darüber verständigen, ob und wie sie zu einer befristeten oder gar unbefristeten Waffenruhe kommen. Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass nicht der Teilnehmerschlüssel von Dschidda, sondern die Frontlage in der Ukraine darüber entscheidet. Sprich: die bisher ausbleibenden relevanten Fortschritte bei der seit nunmehr acht Wochen andauernden ukrainischen Sommeroffensive.

Gibt es den zuvor im Westen viel beschworenen strategischen Einbruch in die tief gestaffelte, von weiträumigen Minenfeldern durchzogene russische Defensive? Bisher augenscheinlich nicht. Drohnen über Moskau, spektakuläre Angriffe gegen russische Tanker oder Krim-Brücken ändern wenig daran, dass sich im Osten und Süden der Ukraine weiterhin ein Stellungskrieg eingerichtet hat. Präsident Wolodymyr Selenskyj steht vor der Alternative, entweder den ganz großen Schlag mit allen verfügbaren Reserven zu versuchen und zu hoffen, dass dann ein Durchbruch gelingt. Oder er lässt Vorsicht walten, spart Ressourcen und benennt die „Sommer-“ demnächst in „Herbstoffensive“ um, der dann allerdings die einsetzende Schlammperiode vor dem Winter Grenzen setzt.

Jetzt also Marschflugkörper

Wie immer, wenn die erwünschte Durchschlagskraft ausbleibt, ruft Kiew nach einem intensivierten, noch wirksameren Waffentransfer des Westens. Auf dem Zeitstrahl lässt sich das mühelos rekonstruieren. Im Oktober/November 2022 ging es vorzugsweise um weitreichende US-Raketenwerfer des Typ HIMARS, März/April 2023 sollten deutsche Leopard-Panzer und Flugabwehrsysteme die Kriegswende erbringen, im Juni NATO-Kampfjets das Kräfteverhältnis kippen. Mitte Juli wurde von den USA bereitwillig noch mehr international geächtet Streumunition geschickt, um die Pattsituation auf dem Schlachtfeld zu beenden. Inzwischen sollen es bunkerbrechende deutsche Marschflugkörper vom Typ „Taurus“ richten.

Eigentlich müsste sich mittlerweile die nicht allzu überraschende Erkenntnis durchsetzen, dass Kriege nicht nur durch Waffensysteme allein – und dieser schon gar nicht – entschieden werden. Ins Gewicht fallen menschliche und ökonomische Ressourcen, das daraus resultierende Durchhaltevermögen, vor allem die politische Agenda der Kriegsparteien und -paten. Hier zeigt sich, dass die Strategie der USA und der NATO, Russland über den Brückenkopf Ukrainemaximal zu schwächen, ohne selbst Krieg zu führen, offenkundig nicht funktioniert.

Dass man nach außen hin ungerührt dabei bleibt, zeigte jüngst der NATO-Gipfel in Vilnius, als das Aufnahmebegehren der Ukraine abgewiesen wurde, was Selenskyj zunächst mit harschen Worten quittierte, bis ihn die USA und Großbritannien zur Ordnung riefen. Was Selenskyj auch immer mit seinem Aufbegehren bezweckt haben mag, feststeht, für ihn hängt alles davon ab, ob er diesen Krieg weiterhin aus einer Kriegskoalition heraus gegen Russland führen kann. Und wie ist es um die bestellt, wenn der Krieg dauert? Womöglich in ein drittes Jahr geht, der massive Beistand des Westens und eine Flut der Sanktionen nicht zu einem ukrainischen Siegfrieden führen? Zumal nicht ausgeschlossen werden kann, dass im November 2024 erneut Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wird. Allein, dass sich in der Zeit zuvor der Eindruck verfestigt, es könnte so sein, wird Einfluss auf die westliche Ukraine-Politik haben.

Abschied vom Wunschdenken

Was dann? Sobald die USA Waffenlieferungen reduzieren und nicht länger das Gravitationszentrum des Ukraine-Beistandes sind, wird die Koalition unweigerlich bröckeln. Also ist man gut beraten, Vorkehrungen zu treffen, um eine Lösung zu finden, wenn sie die Ukraine auf dem Schlachtfeld nicht herbeiführen kann. Dschidda gehört zum Vorspiel, sonst wäre China wohl kaum erschienen. Seit geraumer Zeit geführte „Back-Channel-Gespräche“ zwischen inoffiziellen russischen und US-Vertretern sind dem ebenfalls zuzuordnen. Der Abschied von westlichem Wunschdenken?

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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