G20 nehmen in Delhi die Afrikanische Union auf: Zeichen einer neuen Weltordnung

Meinung Eines hat der G20-Gipfel in Delhi eindrucksvoll bestätigt: Die geopolitische Konkurrenz um den Globalen Süden ist vollauf entbrannt
Ausgabe 37/2023
Tribut zollen die Führer der G20 hier nicht dem Globalen Süden, den sie umwerben, sondern Mahatma Gandhi
Tribut zollen die Führer der G20 hier nicht dem Globalen Süden, den sie umwerben, sondern Mahatma Gandhi

Foto: President Brazi/Ricardo Stuckert/dpa

Das ist schon ein irritierendes Verhalten. Die Regierung Scholz hat es bislang stets als Erfolg gefeiert, wenn Russland für den Krieg in der Ukraine verurteilt worden ist – sei es in der UN-Generalversammlung, der EU, internationalen Kultur- und Sportverbänden oder den G20 wie noch auf deren Gipfel im November 2022 auf Bali – aber nicht mehr in Delhi. Prompt wird sich Kanzler Olaf Scholz untreu und labelt dieses Treffen inklusive der Abschlusserklärung als Erfolg. Es wird beschönigt und verklärt, was doch Kritik und Missfallen hervorrufen müsste.

Aus der deutsche Vordelegation hatte es noch Tage vor dem Ereignis geheißen, Deutschland werde keine Erklärung unterschreiben, „die den russischen Angriffskrieg unerwähnt lässt“, zitierte die indische Zeitung Mint. Man sei nicht bereit zu relativieren. Dieser Rempler galt Indien, das den Ukraine-Krieg mitnichten gutheißt, aber als einen von vielen bewaffneten Konflikten weltweit einsortiert.

Schwindende Deutungshoheit

Bei der deutschen Maximalposition zu bleiben, hätte bedeutet den Gastgeber in der Person von Premier Narendra Modi zu brüskieren. Anerkennung und Prestige für den G20-Ausrichter waren nur mit Kommuniqué, nicht ohne ein solches Papier zu haben. Hätten sich Deutschland, vermutlich die westlichen Staaten in Gänze, der angenommenen Version verweigert, wäre ein Dissens markiert worden, der zu tiefen Gräben zwischen dem Globalem Norden und Süden führen kann. Ein politischer Flurschaden, den es im Interesse aller unbedingt zu vermeiden galt.

Schließlich agierte Indien nicht in eigener Sache, sondern als Wortführer einer G20-Staatengruppe, von der die westliche Lesart des Ukraine-Krieges nicht oder nur mit Abstrichen geteilt wird. Dies mehr als nötig zu offenbaren, erschien wenig ratsam. Dass ein Kompromiss zustandekam, der Russland nicht ausdrücklich erwähnt, stattdessen die territoriale Integrität aller Staaten betont, bezeugt schwindende Deutungshoheit des Westens. Wenn Scholz das als Erfolg vermeldet, ist das seiner Glaubwürdigkeit kaum zuträglich. Rhetorik vermag Realitäten zu vernebeln, nicht zu verändern.

Fraglos hat Delhi eines bestätigt: Die geopolitische Konkurrenz um den Globalen Süden ist vollauf entbrannt. Das zeigte auch der Verzicht des chinesischen Präsidenten auf eine Teilnahme. Sicher kommen dafür Differenzen in Betracht, wie sie zwischen China und Indien seit Jahrzehnten gären. Dennoch war die Abwesenheit Xi Jinpings alles andere als eine protokollarisch verbrämte Missachtung des G20-Präsidenten Indien. Xi und Narendra Modi sahen sich jüngst auf dem BRICS-Gipfel in Johannesburg. Sie hielten Distanz und keine gemeinsame Pressekonferenz ab, schienen aber nicht derart entzweit, dass die auf den Weg gebrachte BRICS-Aufstockung von fünf auf elf Staaten darunter gelitten hätte.

Kein exklusives Format

Nicht auszuschließen ist, dass Chinas Staatschef in den G20 kein adäquates oder zumindest kein exklusives Forum mehr sieht, das einer von seinem Land erstrebten neuen Weltordnung des Multilateralismus gerecht wird. Für China haben andere Gremien einen vergleichbaren, wenn nicht höheren Stellenwert, etwa die „Gruppe der 77“. Momentan von Kuba geführt, ist dieser Zusammenschluss von 134 Staaten vorzugsweise Afrikas, Asiens und Lateinamerikas für Chinas außenpolitische Agenda ebenso relevant wie die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) mit Russland, etlichen postsowjetischen Republiken, Indien und Pakistan. Oder eben das Projekt BRICS plus, das ab Januar in Aktion tritt. Wie sich zeigt, ist der Globale Süden durchaus gut organisiert, scheint nun aber gewillt und aufgefordert zu sein, sich vernehmlicher zu artikulieren. Der Westen muss zur Kenntnis nehmen, dass eine solche Zäsur nicht bevorsteht, sondern längst begonnen hat.

In Delhi wird die Afrikanische Union (AU) bei den G20 ohne große Debatte, quasi im Vorübergehen, aufgenommen. Ein Zeichen der Zeit, auch wenn dabei Symbolik im Vordergrund steht. Der Dachverband aller 55 Staaten Afrikas hat nicht das Gewicht eines G20-Veterans wie der Europäischen Union. Die gegenüber ihren 27 Mitgliedsländern mit Befugnissen ausgestattet ist, von denen die AU nur träumen kann. Ihre Entscheidungsgewalt hört auf, wo der Souveränitätsanspruch des Einzelstaates Grenzen setzt. Zudem definiert sie sich nicht als geopolitischer Akteur. An der internationalen Aufwertung jedoch, die der AU als Nr. 21 der G20 zuteilwird, ändert das nichts.

Man halte sich vor Augen, dass dieser Staatenbund bei seiner Gründung 1999 außer der EU Italien, Deutschland, Frankreich und Großbritannien einbezog, während die Präsenz Afrikas auf die Republik Südafrika beschränkt blieb.

Einigermaßen unbeirrt

Xi Jinping gab den G20 in ihrem bisherigen Zuschnitt – notgedrungen oder nicht – seinen Segen. Seit er 2012 das höchste Staatsamt übernahm, fehlte er bei keinem Gipfel. Dass er Delhi ausließ, kann als Zeichen dafür gesehen werden, dass China unter seiner Führung Prioritäten international nicht anders setzen will, sondern setzen kann. Und das einigermaßen unbeirrt.

Dies heißt freilich nicht, dass Xi auch dem G20- oder G21-Gipfel 2024 fernbleibt, wenn der in Brasilien über die Bühne geht und Gastgeber Lula da Silva ihn erwartet.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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