Das Grauen hat die Grenze des Zumutbaren lange schon und nunmehr endgültig überschritten. Dass Menschen von den Trümmern ihrer Häuser erschlagen werden oder darunter ersticken, dass sie in die Flucht getrieben und dabei beschossen und erschossen werden, dass Krankenhäuser, eines nach dem anderen, zerstört und ausgeschaltet werden, dass damit medizinischer Beistand ebenso genommen ist wie die Möglichkeit eines erträglichen und würdigen Sterbens – all das haben die Paten der israelischen Kriegsführung – allen voran die USA, aber nicht minder das Gros der EU-Staaten – lange hingenommen, toleriert oder gerechtfertigt. Aber dass nun – vor den Augen der Welt, die sich als makabrer Kronzeuge verhöhnt fühlen muss &
s – auch noch Tausende Palästinenser oder mehr verhungern, weil über den Landweg verschickte Hilfsgüter durch israelische Blockaden nicht ausreichen, das scheint dann doch des Furchtbaren und Schlechten zu viel zu sein.Ein provisorischer Hafen vor GazaMit fieberhafter Eile wird seit Tagen eine Seebrücke aus dem zypriotischen Hafen Larnaca in einen provisorischen Hafen vor Gaza vorangetrieben und zur humanitären Lösung erklärt. Doch die kommt erkennbar zu spät und muss ihren praktischen Zweck erst noch beweisen.Aber natürlich, US-Präsident Joe Biden steht innenpolitisch unter Druck und sieht seine Wiederwahlchancen schwinden, solange er seine Israel-Politik nicht ändert. Wäre es anders, würden nicht – wie in den vergangenen Tagen zu beobachten – überstürzte Maßnahmen ergriffen wie der Abwurf von Gütern aus der Luft, die – statt zu helfen – Menschen getötet haben, weil sich die Fallschirme an Containern nicht öffneten. Der jäh erkannte Handlungszwang hat viel damit zu tun, dass Israel den Gaza-Krieg moralisch so unwiderruflich verloren hat, wie bisher keinen der vielen bewaffneten Konflikte seit seiner Staatsgründung. Der Westen ist im Begriff, es ihm gleichzutun. Schwer anzunehmen, dass israelische Militärs amerikanische Militärs kontrollierenAngesichts der vorbehaltlosen Unterstützung – militärisch durch permanenten Waffennachschub und finanzielle Hilfen, politisch durch stringente Parteilichkeit – ist die Mitschuld an 30.000 Toten keine offene Frage mehr. Abtragen lässt sie sich nur, wenn die Folgewirkungen dieser Kriegsführung auf die Zivilbevölkerung gemildert werden. Der Glaubwürdigkeitsverlust des Westens im Globalen Süden ist schon jetzt in Staaten wie Südafrika, Brasilien, Indien oder Indonesien, enorm. Dass die USA versuchen, sich über Nacht an die Spitze der Gaza-Hilfsfront zu stellen, erklärt sich in diesem Augenblick auch aus der Absicht der Vereinigten Arabischen Emirate, eine Seetrasse der Humanität von Zypern nach Gaza aufbauen und unterhalten zu wollen. Krücken als Dual-Use-Güter zugunsten der Hamas?Hätten die USA und andere westliche Staaten dem nur zugesehen, wären weltweit Unbehagen und Abscheu über verheerende Passivität noch einmal gestiegen. Folglich musste etwas geschehen. Und es entfallen die Argumente, mit denen Anteilnahme für das Schicksal der Palästinenser in Gaza, besonders in Deutschland, als Antisemitismus denunziert wird. Seit Tagen heißt es nicht mehr, man dürfe nichts schicken, wovon die Hamas und ihre Verbündeten profitieren können. Zudem ist keine Rede mehr davon, dass Hilfstransporte sogenannter Dual-Use-Güter in den Gazastreifen zu unterbleiben hätten, sprich: zivile Gegenstände, die auch militärisch gebraucht werden können.Wie das UN-Welternährungsprogramm mitteilt, ordnet Israel aufblasbare Wassertanks, Generatoren, Krücken und Medikamente diesen verbotenen Waren zu. Das könnte künftig mit einiger Selbstverständlichkeit den Seeweg in die Kriegszone nehmen, um das Sterben dort aufzuhalten. Schwer anzunehmen, dass israelische Militärs amerikanische Militärs daran hindern, die mit dem Aufbau der Seebrücke betraut sind.Der Internationale Gerichtshof hat Israel schon Ende Januar zu Sofortmaßnahmen verpflichtetWas ist jetzt die herablassende Verachtung noch wert, mit der allein die US- und die britische Regierung den Entscheid des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 30. Januar zur Völkermord-Klage Südafrikas bedacht haben? Das Verfahren sei „wertlos“ hieß es aus Washington, „unsinnig“ nannte es die Regierung von Rishi Sunak. Im Unterschied dazu hatten die IGH-Richter mit 15 zu zwei Stimmen Israel angewiesen, humanitären Beistand für die Bevölkerung Gazas zu leisten, weil es als Besatzungsmacht dazu verpflichtet sei. Diese als „Sofortmaßnahmen“ ausgewiesenen Schritte sollte es schon vor anderthalb Monaten geben. Dass derzeit über Zypern eingegriffen wird, zeigt an, dass sich die Regierung Netanjahu dem offenkundig verweigert hat und der IGH zu Recht urteilte, er halte die Völkermordklage Südafrikas für plausibel.Eines dürfte außer Frage stehen, wann und wie diese Seebrücke auch immer wirksam wird – sie hat nur dann einen Sinn, wenn die eintreffenden Güter an alle Bedürftigen ohne Komplikationen und unverzüglich verteilt werden können, weil die Waffen schweigen.