Rafah: Die Gesichter der Menschen werden zu Masken der Angst
Augenzeugenbericht Der Arzt und Psychiater Bahzad Al-Akhras lebt mit seiner Familie seit Wochen im Zelt. Für ihn wie für 1,4 Millionen Palästinenser sind Szenen des Horrors seit mehr als vier Monaten Krieg zur kollektiven Routine geworden
Zerstörte Häuser in Rafah: Wenn jemand sein Zuhause verliert, geht ihm damit jedes Gefühl der Sicherheit verloren
Foto: Said Khatib/AFP/Getty Images
Ich heiße Bahzad Al-Akhras, ich bin Arzt und Psychiater. Vor dem Krieg in Gaza kannte mein Alltag einen ziemlich verlässlichen Tagesablauf. Ich ging zur Arbeit in die Klinik, besuchte meine Freunde und verbrachte Zeit mit meiner Familie. Ich habe, wie man so sagt, ein normales Leben geführt.
Jetzt sind meine Familie und ich Flüchtlinge in Rafah, nachdem die israelische Armee uns befohlen hat, unser Zuhause in der Stadt Khan Younis zu verlassen. Wir leben unter den furchtbarsten Bedingungen, die man sich vorstellen kann. Wir verbringen unsere Tage mit Warten. Nach Monaten ohne Strom stehen wir in Warteschlangen und hoffen auf zwei oder drei Gallonen Trinkwasser oder auf Lebensmittel oder einfach nur etwas Mehl, um über dem Feuer Brot backen zu können.
Alles, was
Alles, was uns bleibt, heißt, auf das Schlimmste zu warten!Als wir in den vergangenen Tagen hörten, dass Israel sich auf eine Bodeninvasion in Rafah vorbereitet, wurde uns klar, dass wir nirgendwohin mehr ausweichen können, um dem zu entgehen. Die Israelis behaupten zwar, es würden Zivilisten evakuiert, aber wie können wir das glauben, wenn wir wiederholt sehen mussten, was sie bisher getan haben? Alles, was uns bleibt – und ich sage das für auf 1,4 Millionen Palästinenser in diesem Gebiet –, heißt, auf das Schlimmste zu warten! Das Leben fühlt sich an wie ein ewiger, niemals endender Tag. Dieser Tag ist voller Leid und Szenen des Horrors, die man so oft sehen musste, dass sie langsam ineinander übergehen.Es ist zu unserer kollektiven neuen Routine geworden, dem Tod zuzuhören, über ihn Zeugnis abzulegen und sich über seine permanente Anwesenheit bewusst zu sein. Der Tod scheint näher als je zuvor, nachdem das israelische Militär in der zurückliegenden Woche – es begann am 12. Februar – über Nacht zu umfangreichen Luftangriffen überging. Es ist dieses Gefühl der ständigen Ungewissheit, das uns langsam umbringtIch habe meine berufliche Laufbahn damit verbracht, mich im Gazastreifen mit psychischen Erkrankungen zu beschäftigen und bei kollektiven Traumata zu helfen, aber selbst das konnte mich nicht auf das tiefe Gefühl der Hoffnungslosigkeit vorbereiten, die jetzt unsere Gemeinschaft erfasst und alles durchdringt. Fast jeder um mich herum hat Familienangehörige verloren, egal ob sie durch israelische Luftangriffe oder Scharfschützen getötet worden sind, ob sie die israelische Armee entführt oder in andere Gebiete vertrieben hat. Es ist dieses Gefühl der ständigen Ungewissheit, das uns langsam umbringt. Wir wissen nicht, wer als nächstes sterben oder seine Familie verlieren wird. Wenn ein Mensch akuter Lebensgefahr ausgesetzt ist, reagiert er in der Regel auf dreierlei Weise: Er kämpft, er flieht oder er erstarrt. Wir hingegen können nicht kämpfen, und wir können nicht mehr fliehen, also sind wir ein erstarrtes, ein eingefrorenes Volk. Für die meisten von uns trifft das seit über vier Monaten zu. Das Problem ist, wer in einen Zustand der Erstarrung gerät, kann sich nicht mehr normal verhalten oder in der gewohnten Weise fühlen. Menschen werden zu Zombies. Wenn ich in der Klinik in Rafah bin, wo Menschen in langen Schlangen nach Wasser anstehen, oder wenn ich mit Nachbarn rede, fällt mir auf, dass die Gesichter leer geworden sind. Sie wurden zu Masken der Angst, der Hoffnungslosigkeit und emotionalen Taubheit. An manchen Tagen weiß ich nicht, wie ich mental weitermachen soll. Mir ist unklar, wie ich am nächsten Morgen aufwachen und der Tatsache ins Auge sehen soll, dass all dies, was um mich herum geschieht, die Wirklichkeit ist – dass ich jeden Tag von Neuem die Geräusche der Bombardements und das Summen der Drohnen über unseren Köpfen hören soll. Ich kann keine weiteren Nachrichten über diejenigen ertragen, die wir lieben, und die verletzt oder getötet wurden. Ich kann keine weiteren Nachrichten über die ertragen, die wir lieben und die verletzt oder getötet wurdenAls Kinder lebten wir in der Vorstellung, dass unser Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit in unserem Zuhause verwurzelt ist. Vor Tagen haben wir erfahren, dass unser Haus in Khan Younis zerstört wurde. Mein erster Gedanke war: Wohin sollen wir gehen? Wo werden wir künftig wohnen? Wenn jemand sein Zuhause verliert, geht ihm damit jedes Gefühl der Sicherheit verloren. Als die Bombardierung Rafahs begann, war ich mit meiner Familie im Zelt, in dem wir seit Wochen leben. Wovor kann ein dünner Nylonstoff beschützen? Vor Granatsplittern, die dich und deine Familie treffen? Wir starrten in den Himmel und beobachteten das heftige Bombardement, von dem wir genau wussten, was es bedeuten kann. Wir sind eine kleine Familie. Mein Bruder, meine Schwester und ihre vierjährigen Zwillingstöchter. Wenn ich in die Augen meiner Nichten sehe, breche ich fast zusammen. Wir alle versuchen, für die Kinder stark zu sein. Aber wir können die Realität nicht vor ihnen verstecken – sie erleben alles ganz genau wie wir.Wo immer man hingeht, ist man umgeben von Kindern ohne Eltern oder völlig ohne Familienmitglieder, die überlebt haben. Für uns ist das nicht nur Krieg, sondern ein niemals endendes Blutbad. Und während die Welt dem sich abzeichnenden Völkermord zuschaut, wird nichts getan, um ihn zu verhindern. Nichts von dem, was uns geschieht, lässt sich rechtfertigen und kein Mensch sollte diese Art von Leid erleben müssen. Wir haben Angst, dass die Vorwarnungen Israel keinen Zweifel lassen, was kommt.Die ganze Welt soll sich an die Idee gewöhnen, dass Rafah zur Zielscheibe wird. Sie soll nicht schockiert sein, wenn wir getötet werden. Nur internationales Eingreifen wird das noch stoppen, indem sofort Druck ausgeübt wird, um einen dauerhaften Waffenstillstand zu erreichen. Es ist vielleicht unsere einzige Chance, das hier zu überleben.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.