Hitlerputsch 1923 soll von Bayern aus die „saupreußische Republik“ schleifen
Zeitgeschichte Adolf Hitler marschiert zur Münchner Feldherrenhalle. Der „Führer“ will den Rubikon überschreiten, um in Deutschland das „Regime der Novemberverbrecher“ zu stürzen. Bayern hat ihn im Willen zur „nationalen Revolution“ bestärkt
Gemälde „Befreiungskampf an der Feldherrnhalle“ von Arthur Wirth
Foto: Scherl/SZ-Photo/Ullstein
Für den 72-jährigen Gustav von Kahr gibt es kein Erbarmen, für ihn ist alles zu spät, gerade für ihn. Als am 30. Juni 1934 in Deutschland SA-Chef Ernst Röhm und seine Entourage aus dem Weg geräumt werden, trifft es ebenso Adolf Hitler besonders verhasste Personen wie den Kurzzeitkanzler Kurt von Schleicher, der von SS-Leuten in seiner Babelsberger Villa erschossen wird, oder Edgar Jung, den Redenschreiber Franz von Papens, der – entmachtet zwar, aber immerhin – noch als Vizekanzler im Kabinett Hitler sitzt. Dass ihn die Mordorgie verschont, ist mutmaßlich Reichspräsident Paul von Hindenburg zu verdanken, den man als Gönner von Papens besser nicht brüskiert.
Seinen Henkern schutzlos ausgeliefert, ist hingegen jener Gustav vo
Gustav von Kahr, der als Pensionär zurückgezogen in München lebt, am frühen Morgen des 30. Juni 1934 aus dem Bett geholt, ins KZ Dachau gebracht und durch Wachpersonal gelyncht wird. Von Spitzhacken entstellt, findet man die Leiche Tage später in einem Waldstück.Von Kahrs Verhängnis ist der missglückte Hitler-Putsch vom 9. November 1923. Als Bayerns Generalstaatskommissar sympathisiert er zunächst mit der NSDAP und dem „Marsch auf Berlin“, um das „Regime der Novemberverbrecher“ abzuräumen. Dann aber folgt die jähe Kehrtwende. Von Kahr weiß, die Reichswehr wird den Umstürzlern keinen Feuerschutz geben, der Coup muss scheitern. Hitler schießt am Abend des 8. November 1923 in die Decke des Münchner Bürgerbräukellers und schreit: „Das ist der erste Akt eines Staatsstreichs, der die Regierung in Berlin hinwegfegen wird.“ Von Kahr verbietet in derselben Nacht die NSDAP und die ihr angeschlossenen bewaffneten Verbände. Als die Putschisten tags darauf zur Feldherrenhalle ziehen, liegt bayerische Landespolizei in Stellung. Es wird geschossen, 16 Marschierer und vier Polizisten liegen tot auf dem Pflaster, als sich der Odeonsplatz unversehens leert. Hitler hat seine zu Märtyrern verklärten „Blutzeugen der Bewegung“ und einen zum „Verräter“ erklärten Feind: Gustav von Kahr. In seinem 1930 erschienenen Roman Erfolg, dem ersten Buch der „Wartesaal-Trilogie“, verewigt Lion Feuchtwanger (1884 – 1958) von Kahr in der Gestalt des Franz Flaucher. Wie das Original erst Kultusminister, dann 1923 Bayerns Regierungschef mit dem typischen Lebenslauf eines Staatsdieners. Der Autor hält fest: „Geboren als vierter Sohn des Konzipienten beim Königlichen Notar in Landshut. Im Gegensatz zu seinen Brüdern konnte er das Gymnasium absolvieren, ohne eine Klasse wiederholen zu müssen. Dadurch zur Laufbahn eines höheren Beamten bestimmt, musste er sich mittels demütigender Bittgänge klerikale Stipendien ergattern … Auf den Sessel des Kultusministers gelangte er, weil er in der Lage war, ein paar Verse aus der ‚Odyssee‘ in der Originalsprache auswendig aufzusagen. Im Zuge der separatistischen, gegen Berlin gerichteten Bestrebungen wurde Flaucher zum Generalstaatskommissar in Bayern ernannt und mit diktatorischen Vollmachen ausgestattet. Für die Fortsetzung seines Lebenslaufes trägt er selbst die Verantwortung.“Placeholder image-1Lion Feuchtwanger vollendet sein Werk gut vier Jahre bevor am 30. Juni 1934 die langen Messer gezogen sind und von Kahr die Verantwortung „für die Fortsetzung seines Lebenslaufes“ unwiderruflich abgenommen wird. Dazu durchziehen den Roman beklemmende, fast unheimliche Vorahnungen. Sie gründen in der Gewissheit, dass Bayern als querköpfiger Gegenspieler der „saupreußischen Republik“ zum Frühbeet der völkischen Bewegung taugt. Man schert sich wenig um die Reichsverfassung, lässt Gesetzesbrüchen freien Lauf, ist beseelt von der „machiavellistische Methode“ – Recht ist, was dem Land Bayern nützt.Feuchtwanger entwirft das Sittengemälde einer rauf- und saufseligen Bürgerlichkeit, die sich an Bier- und Fleischeslust schadlos hält, sich „hinhockt“ im Münchner Kapuzinerbräu oder Spatenbräukeller, unter niedriger Decke und im Dunst der Leiber mit Bierkrügen den Takt schlägt, wenn „der Führer“ zum Reden anhebt. Dann wird gerufen –„Arierblut, höchstes Gut“ – und gesungen – „Nachts lieg ich beim Schatz im Bett / tags schlag ich den Juden tot / dabei werd’ ich dick und fett / Meine Fahn’ ist Schwarzweißrot.“ Den Vorboten einer „großen Zeit“ sind Toleranz und Freisinn „ein Graus“. Ihnen reißt schnell und zuverlässig der Geduldsfaden, der hauchzart, wenn überhaupt, an das Reich da draußen bindet. Es macht ihn fuchtig, wenn inflationsbedingt – die Handlung spielt vorwiegend 1923 – Zeitungs- statt Toilettenpapier „im Häusl“ hängt. Um wen es genau geht? Feuchtwanger legt nahe, sich auch da „bayerischer Lebensläufe“ zu vergewissern, um mehr zu wissen. Für Männer wie den Ökonomen Ignaz Mosshuber aus Rainmochingen, den Bierführer Josef Kufmüller aus Ingolstadt oder den Pensionär Cajetan Lechner aus München ergibt sich unterm Strich, dass man im Schnitt über ein Vokabular von 612 Wörtern verfügt, zweimal im Jahr ein Vollbad nimmt und Vorsorge trifft, dass einem am Grab das Lied gesunden wird: „Ich hatt’ ein Kameraden“.Adolf Hitler heißt im Roman Rupert Kutzner und führt nicht die NSDAP, sondern die „Wahrhaft Deutschen“. Der Völkische Beobachter nennt sich Vaterländischer Anzeiger. Erich Ludendorff, einst des Kaisers General, nun Kutzners (Hau-)Degen, trägt den Namen General Vesemann. Allein das Hakenkreuz ist das Hakenkreuz. Man kratzt es in die Bänke von Straßenbahnen und an die Wände von Bedürfnisanstalten, trägt es am Revers oder als Busennadel. Die Romanfiguren verstecken sich nicht hinter ihren Vorlagen. Sie werden ihnen gerecht. „Ich hatt’ einen Kameraden“1923 wirkt nach, wie die weiße Garde aus Reichswehr und Freikorps im Mai 1919 die Bayerische Räterepublik abgeschlachtet hat. Ihren Ministerpräsidenten Kurt Eisner hatte ein monarchistischer Student schon im Februar totgeschossen, ihren Kultusminister Gustav Landauer treten Landsknechte wenig später tot. Zusammenhalten gegen den Marxismus durch Ordnung und eiserne Disziplin, so der Wahlspruch einer alpinen Gegend. Feuchtwanger lässt den Schriftsteller Jacques Tüverlin, unverkennbar sein Alter Ego, darüber nachdenken, ob es Bayerns Hochebene, inklusive München, nicht verdient hätte, „Naturschutzpark“ genannt zu werden „mit allem, was da hurt, säuft und in den Kirchen kniet, Politik, Fasching und Kinder macht, mit seinen Bergen und Flüssen und Seen, mit seiner Luft und seinem Himmel – ein schönes Land“. Für das Selbstverständnis dieses Stammes sind konträre Ansichten ein Sakrileg, weil unbayerisch, daher staatsfeindlich, also verbrecherisch. Das kann notfalls durch einen Fememord der „Wahrhaft Deutschen“ geahndet werden, die keinerlei Ermittlungen zu befürchten haben. Oder durch ein Gerichtsurteil, mit dem das Recht unverfroren gebeugt wird, sodass von „Justizskandal“ oder „Justizkomödie“ zu sprechen wäre, würde Letzteres nicht zu harmlos klingen. Durch die „machiavellistische Methode“ können Menschen schwer zu Schaden kommen.In Erfolg trifft es Martin Krüger, den Subdirektor der Bayerischen Staatsgalerie. Er hat Gemälde erworben und ausgestellt, die von der Regierung als pervers und verkommen missbilligt werden. Durch den Meineid eines gewalttätigen, von Konzessionsentzug bedrohten, darum willfährigen Taxichauffeurs wird Krüger in einem Scheinprozess zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. In der Haftanstalt Odelsberg bleibt dem Strafgefangenen 2.478 angemessene ärztliche Hilfe versagt. Krüger geht elend zugrunde. Er stirbt in der Nacht vor seiner anstehenden Begnadigung zwischen Rattendreck und dem Kot des im Todeskampf umgestürzten Kübels.Als der Roman 1930 erscheint, hat sich Feuchtwanger für den Untertitel Drei Jahre Geschichte einer Provinz entschieden. Das sagt schnörkellos, wovon Hitler und der Faschismus zehren. Die Blätter des Hugenberg-Konzerns kreiden dem Autor an, „ein Werk des Hasses“ geschrieben zu haben, statt zu würdigen, wie viel Einfühlung der Verfasser für die Macht der Umstände aufbringt. Dem unglückseligen Franz Flaucher wird zugestanden, am 9. November 1923 Täter und Opfer zu sein. Ein Gefangener lausiger Verhältnisse, die er freilich selbst geschaffen hat. Als Flaucher scheinbar mit den „Wahrhaft Deutschen“ paktiert, lockt er sie tatsächlich vor seine Gewehrläufe. Schmach und Schande des Judas sind ihm sicher. Bayerns heimliche Regenten – der blinde Bauernführer Bichler, der Kardinalerzbischof und der Baron von Reindl mit seinen Bayerischen Motorenwerken – können zufrieden sein und werden den Flaucher umso mehr verachten. Sie wollten den Kutzner nicht. Noch nicht. Jetzt nicht. Kein anständiger Münchner Hund werde noch ein Bein vor ihm heben, ahnt der Generalstaatskommissar Flaucher. Für Gustav von Kahr wäre das am 30. Juni 1934 das Schlimmste nicht, als sie ihn in Dachau aus seinem „bayerischen Lebenslauf“ kippen und ein letzter Gruß am Grab entfällt. „Ich hatt’ einen Kameraden“, das will ihm keiner anstimmen.
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