Krieg in Nahost: Deutschlands Weltbild steht konträr zur Wirklichkeit
Meinung Das Schicksal der Palästinenser im Gaza-Krieg und die Notwendigkeit einer sofortigen Waffenruhe können in Deutschland jetzt wieder als nachgeordnete Fragen behandelt werden. Israels Premier Benjamin Netanjahu wird das recht sein
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer Pressekonferenz in Berlin im März 2023
Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images
Und wie es funktioniert hat! Über Nacht versiegt in Washington und Berlin das Unbehagen über die israelische Kriegsführung in Gaza, bei der nach Raketen und Bomben zuletzt der Hunger als Waffe geschätzt war. Seit der Iran den israelischen Angriff auf seine Botschaft in Damaskus militärisch beantwortet hat, werden die Reihen geschlossen. Benjamin Netanjahu treibt die G7-Staaten vor sich her, die nicht Teheran und Jerusalem gleichermaßen ermahnen, es gut sein zu lassen, sondern den Iran verurteilen.
bringt es fertig, Teheran vorzuwerfen, den Nahen Osten „an den Rand des Abgrunds“ geführt zu haben, ohne auch nur mit einem Halbsatz den israelischen Anteil an der heraufbeschworenen Katastrophe zu streifen. Gemäß der zur Obsession gewordenen Praxis, Brandmauern gegen Realitäten zu errichten, triumphiert Weltbildpflege über Wirklichkeitsnähe. Die Nahost-Politik der Bundesregierung wirkt erleichtert, dank des Iran in die übliche Schlachtordnung zurückfallen zu können und das Schicksal der Palästinenser in Gaza wieder als nachgeordnete Frage behandeln zu dürfen.In Den Haag wird über Deutschland verhandeltAls israelische Raketen am 1. April die iranische Botschaft in Syrien trafen, hatte die Regierung Netanjahu ihr Kriegsrepertoire in Gaza bis auf das Überrollen von Rafah ausgeschöpft. Was sollte noch mehr zerstört werden, als schon zerstört war? Man hatte Selbstverteidigung als Zerstörungsakt wahrgenommen. Jedoch schien der unvollendet, solange die Menschen übrig blieben. Ein Vormarsch nach Rafah lag in der Luft, bei dem sich vielleicht doch Hunderttausende nach Ägypten abdrängen ließen – für immer.Es setzt auf Dauer zu, wer sich als Verbündeter Israels dafür vereinnahmen lässt. Sechs Monate Gaza-Krieg schleifen Glaubwürdigkeit und Reputation im Staatenverkehr. Und das umso mehr, je länger dieser Krieg dauert und so geführt wird wie bisher. Dafür mitverantwortlich zu sein heißt unter Umständen, daran mitschuldig zu sein. Nicht von ungefähr wird gegen Deutschland seit gut einer Woche vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag verhandelt. Der Kläger Nicaragua erkennt auf Beihilfe zum Völkermord, der besonders durch Waffenlieferungen begünstigt werde. Das Verfahren korrespondiert mit der Klage Südafrikas, Israels Verhalten in Gaza als Form des Genozids nach der UN-Völkermordkonvention von 1948 einstufen und durch den IGH verurteilen zu lassen. Sollte das tatsächlich geschehen, wären Alliierte Israels, die das massenhafte Töten von Zivilisten billigend in Kauf nehmen, gleichfalls belastet.Deutsche Waffen für IsraelEine Mittäterschaft läge auf der Hand, welche Begründung dafür auch immer herangezogen wird. Die deutsche Staatsräson ist kein Rechtsgut, sondern ein nationaler Politikansatz, dessen Vollzug nicht im rechtsfreien Raum stattfindet. Wenn Deutschland im Vorjahr Waffen für mehr als 326 Millionen Euro geliefert und so ein Viertel der israelischen Rüstungseinfuhren bestritten hat, ist das als Tatsache ein Tatbestand, der kaum von den inzwischen mehr als 33.000 Toten – nicht vorwiegend Hamas-Kämpfer, sondern Frauen und Kinder – getrennt werden kann.In der UN-Völkermordkonvention ist klar formuliert, sie greife schon, gäbe es nur Verdachtsmomente für einen Genozid. Da es daran in Gaza nicht fehlt, müsste Deutschland diesen zunächst nachgehen, bevor weiter Waffen versandt werden. Unterbleibt das, gerät ein Land, das sich stets als imposante Stimme der Menschenrechte feiert, nicht nur in einen moralischen Zwiespalt, sondern in Verdacht, den Bruch internationalen Rechts zu fördern. Daran zeigt sich nicht nur nebenher, dass im Gaza-Konflikt die Parteilichkeit des Westens an Grenzen stößt, weil ihr der Geruch von Komplizenschaft anhaftet. Dies ist zu offenbar, als dass es nicht erkannt werden könnte, auch wenn es politisch ausgeblendet wird – zum eigenen Nachteil.Dass Südafrika und Nicaragua vor einem UN-Gericht vorstellig werden, taugt zum Indiz dafür, dass die Zeit vorbei ist, in der die USA und ihre Helfer als Besatzer in Afghanistan oder im Irak Verbrechen verüben konnten, bei denen sich kein Kläger fand, geschweige denn mit Sühne zu rechnen war. Staaten des globalen Südens – so ohnmächtig sie ansonsten auch sein mögen – haben heute durchaus Geltungsmacht, indem sie sich auf internationales Recht berufen und Unterstützer um sich scharen. Benjamin Netanjahu ist der Letzte, der Deutschland diese Erfahrung ersparen kann.
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