Ein kleiner Junge wird getrieben von heftiger Unruhe, die ihn wie einen Schlafwandler herumirren lässt unter schwerer orientalischer Sonne und in einer schier endlosen Wüste. Dort kann es Tausendundeine Nacht und manches Märchen dauern, bis Träume vom Glück in Erfüllung gehen. So lange will der Junge, den sie „kleiner Muck“ nennen, nicht warten. Er hofft, schnell den Kaufmann finden, der das Glück zu verkaufen hat. Bezahlen will Muck mit bunten Glasscherben, mit denen er eben noch gespielt hat, bevor ein großes Unglück über ihn hereinbrach. Der Vater ist plötzlich gestorben. Habgierige, erbsüchtige Verwandte machen sich seither im Hause breit, sodass Muck nichts weiter übrig bleibt, als das Weite und nun erst rech
Der kleine Muck: Auf der Suche nach dem Glück im Wüstensand der DEFA
Zeitgeschichte Regisseur Wolfgang Staudte inszeniert 1952/53 „Die Geschichte vom kleinen Muck“. Das Werk wird in der DDR zu einem Kultfilm für Generationen – und ist bis heute der beste Märchenfilm, den die DEFA je produziert hat
Lutz Herden
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Die DEFA ließ in Babelsberg eine ganze orientalische Stadt erbauen und Tonnen von Sand ankarren.
Fotos: AKG, Berliner Verlag/dpa (links)
reit, sodass Muck nichts weiter übrig bleibt, als das Weite und nun erst recht nach dem Glück zu suchen.Der Vater war ein Gelehrter, der ständig darüber nachdachte, ob der Mond ein Trabant der Erde oder die Erde ein Trabant des Mondes ist. Wenn ihm dann noch Zeit blieb, überfiel ihn die Sorge, was aus dem Sohn einmal werden sollte – diesem armseligen Geschöpf mit seinem Buckel und der verwachsenen Gestalt. Die Gleichaltrigen jagten ihn gern und ausdauernd durch die Stadt, um auf seinen Turban zu schlagen, sobald sie seiner habhaft wurden. Allein dem zu entrinnen, wäre schon ein Glück, findet der kleine Muck. Würde man nur den Kaufmann finden, bei dem es zu haben ist. Aber der macht sich rar. Wer hat ihn je gesehen? Der Torwächter an der Stadtmauer behauptet, gestern erst kam er vorbei. Aber ging er nun von da nach da? Oder von hier nach dort?Vor den Augen des SultansSchon mit den ersten Szenen fesselt dieser Kinder- und Märchenfilm der DEFA dank einer wundersamen Geschichte, die beschwingt und schwerelos erzählt wird. Was viel mit der Hauptfigur zu tun hat. Der kleine Muck ist ein so anmutiger, so unverwüstlicher Held, dass man ihm zutraut, ein Schicksal wie das seine zu tragen. Er verkörpert das Versprechen rührender Unschuld, dem sich nicht entziehen kann, wer daran glaubt. Warum eigentlich läuft der kleine Muck dem großen Glück hinterher? Hat er nicht – ohne es zu wissen – genug Glück mit sich selbst?Die Dreharbeiten in Babelsberg beginnen Ende 1952. Regie führt Wolfgang Staudte (1906 – 1984), der für die ostdeutsche DEFA 1946 deren Debütfilm Die Mörder sind unter uns inszeniert hat. Mit einer Handlung – angesiedelt in Berlin unmittelbar nach Kriegsende – wird Staudtes Trümmerkino zum Mutmacher, zum Hoffnungs- und Trostspender. Sieben Jahre später nun also ein Märchen aus dem Orient nach einer Vorlage des Schriftstellers und Romantikers Wilhelm Hauff (1802 – 1827). Er unternehme einen Ausflug in die Märchenwelt des Morgenlandes, die voller Poesie und frei von „falscher Pädagogik“ sei, so Staudte. Dieser Stoff brauche weder das Dämonische noch Brutale. Wenn man sich dem Zauber des Fantastischen überlasse, werde das der Suche eines kleinen Jungen nach dem Glück am besten gerecht. Womit er recht hat. Was spiegelt die Sehnsucht nach dem Glück anderes als den Traum von einem Leben, das gelingt?Die DEFA scheut keinen Aufwand. Sie lässt auf dem Studiogelände in Babelsberg eine orientalische Stadt erbauen mit Torbögen, Minaretten und Marktplätzen, Ateliers, Terrassen und Gassen. Für die Wüstenszenen werden Tonnen von Sand angefahren. Das Domizil der Katzenfrau Ahavzi mit ihren hochmütig dreinschauenden Kreaturen schwebt zwischen Lasterhöhle und Bunkerruine. Den kleinen Muck verschlägt es – erschöpft und nicht zu seinem Besten – in dieses düstere Labyrinth. Ahavzi will ihn zu ihrem Sklaven machen. Muck entkommt durch eine List, ein Paar glitzernde Pantoffeln und ein Zauberstöckchen im Gepäck. Beides fand er in den Scherben einer prächtigen Vase, die einer von Ahavzis Lieblingen herunterstieß.Der kleine Muck verhindert einen KriegWieder in der Wüste entdeckt Muck einen Vers, der in einem der Pantoffeln eingraviert ist: „Lauf mit mir fort zu fernem Ort. Endet dein Lauf, ist Glück dein Kauf.“ Weil dort der bewusste Kaufmann wartet? Muck erkennt, dass ihn die Pantoffeln, wenn er die hinteren Laschen hochklappt, zum rasenden Schnellläufer machen, den nichts mehr aufhält, kein gefräßig träger Löwe im Wüstensand, keine Lanze der Torwächter, kein Eselskarren, kein Marktstand – allein die Netze der Fischer fangen ihn ein. Muck glaubt sich am Ziel. „Ihr seid gewiss der Kaufmann, der das Glück zu verkaufen hat“, fragt er einen der Retter. „Nein, das ist nur der Kaufmann, der seine Fische verkauft“, lachen die Leute.In diesem Augenblick gleitet in der Ferne Murad vorbei, der Oberleibläufer des Sultans, zu dem nur werden kann, wer der Schnellste im Lande ist. Der kleine Muck weiß schlagartig, wie er zu seinem Glück kommt. Wenn nicht im Tausch gegen bunte Scherben, dann durch einen siegreichen Wettlauf gegen Murad vor den Augen des Sultans. So soll es sein. Zwar tanzt ein Zauberpantoffel kurzzeitig auf einer Fontäne im Park des Sultans, doch lässt sich Muck vom Wasserstrahl emportragen, greift zu – und der Sieg ist ihm nicht mehr zu nehmen. Wie es scheint, geistert dem unentwegten Glückssucher das Glück wie ein Schatten hinterher. Tatsächlich wird der kleine Muck mit den wirbelnden Beinen zum Oberleibläufer des Sultans befördert. Wie im Leben ist freilich auch im Märchen des einen Aufstieg des anderen Fall. Murad muss gehen, ist entlassen, wird in die Wüste geschickt. Zwei Oberleibläufer braucht der Sultan nicht. Das habe ich nicht gewollt, redet Muck sich ein.Wolfgang Staudte, der am Drehbuch mitschreibt, ergänzt hier die Handlung um ein Kapitel, das es bei Hauff nicht gibt. Es könnte überschrieben sein mit: Der kleine Muck verhindert einen Krieg! Den will sein Dienstherr, der Sultan, anzetteln, weil die Schatzkammer des Palastes aufgefüllt werden muss. Die Höflinge haben sich gar zu schamlos bedient. Oberleibläufer Muck soll die Kriegserklärung umgehend Wasil ibn Hussein überbringen, dem Oberhaupt des im Osten liegen Nachbarreiches. Der Sultan diktiert: „Ich erkläre Wasil ibn Hussein den Krieg, und zwar aus Kriegsgründen. Nein, das klingt nicht gut, besser: Weil nicht länger geduldet werden kann, dass die Sonne in seinem Reich früher aufgeht als in meinem.“ Schon schlagen die Trommeln einen dumpfen Takt, und die Palastwachen schauen grimmig drein.Unterwegs trifft Muck auf Murad, der seiner todkranken Schwester eine helfende Medizin bringen will, aber fürchtet, es nicht mehr rechtzeitig zu schaffen. Muck springt ein und überlässt Murad das Pergament des Sultans. Als sich der Inhalt herumspricht, sind alle erschüttert und empört – bis einer die Kriegserklärung zerreißt. Der Krieg fällt aus, und Muck wird als Held gefeiert, nicht nur von den Untertanen des Sultans, besonders von diesem selbst. Sein Leibmagier hat ihm nämlich prophezeit, er werde gegen Wasil ibn Hussein verlieren. Wie gut, dass die Depesche irgendwo auf der Strecke blieb.Acht Jahre nach einem Weltkrieg enthält Staudtes Film die Botschaft: Ihr müsst es nicht erdulden, euch nicht wie Lämmer vor der Schlachtbank anstellen und warten, bis ihr dran seid. Zerstört, was euch vernichten will. Deutsche Geschichte war zu oft von allen guten Geistern verlassen. Märchen wie das vom kleinen Muck dienen der Hoffnung, dass sie weder ausgetrieben noch ausgestorben sind. Wie der Zauber des Orients bürgt künstlerischer Humanismus für die Wirkung des Films.Westdeutschland untersagt jede AufführungAm 23. Dezember 1953 wird Die Geschichte vom kleinen Muck im Berliner Filmtheater Babylon uraufgeführt. Als das Jahr endet, haben das Werk DDR-weit bereits über 50.000 im Kino gesehen. Der kleine Muck wird zum Kultfilm, der Generationen fasziniert. Die Zuschauerzahl übersteigt bald die Millionengrenze, mit den Jahren wird der Streifen in 70 Ländern gezeigt, zunächst nicht in Westdeutschland, wo das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen jede Aufführung untersagt. Bei den vielen gelungenen Märchenfilmen der DEFA war dieser wohl der eindrucksvollste, der in Babelsberg je entstanden ist. Wer wollte sich als Kind nicht in die Rolle des kleinen Mucks versetzen?Zurück zu dessen Schicksal. Durch die Intrigen und Bosheiten des Hofstaates letztlich zur Strecke gebracht, verweist ihn der Sultan nicht nur des Palastes, sondern des Landes. So geht Muck wieder auf Wanderschaft, jedoch ohne die rasenden Pantoffeln und seinen Zauberstab. Er lässt sie in der Wüste zurück, auf dass sich der Wind und der Sand ihrer annehmen. Wozu länger dem Glück nachjagen und vergeblich suchen, was nicht zu finden ist?Jahrzehnte später, als alter Mann, erzählt Muck seine Geschichte vor Kindern der Stadt, in der er einst gejagt und geschlagen wurde. Jetzt hören alle gespannt und erstaunt, was der kleine Mann an großen Abenteuern erlebt hat. Als es nichts mehr zu berichten gibt, wird er reich beschenkt. Seine Zuhörer geben, was ihnen das Wichtigste und Wertvollste ist – eine geschnitzte Flöte, eine Puppe, einen Angelhaken – und bunte Glasscherben, wie sie Muck einst besaß, als er damit das Glück bezahlen wollte.