Die Zeichen für einen NATO-Beitritt stehen klar auf rot

Russland Trotz schriller Warnungen aus den USA ist Wladimir Putin bisher nicht in die Ukraine einmarschiert. Deutschland sollte endlich wahren Willen zum Kompromiss zeigen
Ausgabe 07/2022
Der große Tisch Wladimir Putins war in vielen Medien Thema. Dabei wird hier eigentlich über etwas viel größeres verhandelt, das selbst die zwei kleinen Menschen übersteigt
Der große Tisch Wladimir Putins war in vielen Medien Thema. Dabei wird hier eigentlich über etwas viel größeres verhandelt, das selbst die zwei kleinen Menschen übersteigt

Foto: Mikhail Klimentyev/Sputnik/AFP/Getty Images

Olaf Scholz wollte mit dem Timing seiner Auslandsreisen zu Wochenbeginn Prioritäten setzen, wie es heißt. Erst in Kiew vorsprechen, dann nach Moskau fliegen. Es in umgekehrter Reihenfolge zu tun, wäre der Lage womöglich angemessener gewesen. Schließlich hatte Joe Biden kurz zuvor verkündet, am 16. Februar werde Russland in der Ukraine einmarschieren. Scholz hätte umgehend zur Krisendiplomatie im Kreml aufbrechen müssen. Oder glaubt er nicht, was das Weiße Haus in die Welt setzt? Statt loszuschlagen, lässt die russische Armee derzeit mobilisierte Verbände an ihre Standorte zurückkehren.

Frank-Walter Steinmeier legte in seiner Rede nach der Wiederwahl Wert auf die Metapher von der Schlinge, die Wladimir Putin der Ukraine um den Hals gelegt habe. Ein Verlust an Contenance, wie sie für ein Staatsoberhaupt geboten sein sollte – ein verstörendes Sittenbild, wenn ihm dafür applaudiert wurde. Politik und Medien in Deutschland verfallen seit Monaten der in Endlosschleife dargebotenen Annahme, dass Russland morgen – spätestens aber übermorgen – den Nachbarstaat überrennt. Ein inzwischen zum notorischen Reflex degeneriertes Narrativ, das die Wahrheit brüskiert. Es dennoch unablässig zu bemühen, zeugt vom Verkennen realer Verhältnisse, zugleich vom Verzicht auf politische Deeskalation, wie sie durch den Willen zum Kompromiss über Nacht zu haben wäre.

Wladimir Putin verfügt über strategischen Weitblick

Das von seiner Fläche her zweitgrößte Land Europas auch nur in Teilen zu besetzen, kann nicht in russischem Interesse liegen. Es würde enorme Kapazitäten binden und hohe Verluste bedeuten, vor allem aber die in Moskau reklamierten Sicherheitsbedürfnisse konterkarieren. Es bedarf keiner prophetischen Gaben, um sich auszumalen, dass eine Intervention die Gegner Russlands vom Lager zum Block verschweißen würde. Die USA könnten sich als westliche Führungsmacht reanimieren und Rückzüge kompensieren, wie sie zuletzt in Nahost oder Mittelasien unausweichlich waren. Es wäre der NATO ein Leichtes, Rüstungsprogramme durchzusetzen, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Und was immer von der Ukraine unbesetzt bliebe, wäre prädestiniert, Stationierungsort für auf russische Ziele gerichtete Mittelstreckenraketen zu sein, die sich mit Nuklearsprengköpfen bestücken ließen. Mit einem Wort, Russland könnte das erstrebte System kollektiver Sicherheit für lange Zeit abschreiben. Wladimir Putin hat mehrfach bewiesen, über strategischen Weitblick zu verfügen und dies seinerseits zu erkennen.

Es hat sich eingebürgert, dass westliche Konfliktbefunde vom Augenblick zehren, der scheinbar ohne Vorleben ist. Bei der NATO-Osterweiterung ist diese Praxis geeignet, Illusionen zu nähren. Sie konnte zwischen 1999 und 2020 in der Gewissheit vollzogen werden, dass man Beistandspflichten kaum je würde einlösen müssen. Selbst bei Polen (Mitglied ab 1999) wie den baltischen Staaten (ab 2002) ist bei allem Unbehagen in Moskau eine solche Situation noch nie eingetreten.

Im Fall Ukraine jedoch sind russische Kerninteressen in einem Maße berührt, dass mit aller Entschlossenheit eine „rote Linie“ gezogen ist – und dies Wirkung hinterlässt. Es gab einen Zungenschlag von Olaf Scholz gegen Ende seiner Pressekonferenz mit Präsident Putin, die aufhorchen ließ. Es werde so viel über weitere NATO-Aufnahmen gesprochen, aber da stehe doch bis zum Ende ihrer Amtszeiten nichts an. Auch wenn er nicht wisse, wie lange sein Gastgeber noch regieren wolle.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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