Amerikanische TV-Serien haben zumindest im deutschen Feuilleton begeisterte Fans. Mit Grund: Die deutsche Hausmannskost – insbesondere die staatliche Grundversorgung bei ARD und ZDF – feiert Triumphe allenfalls noch in punkto Biederkeit. Bestes Beispiel: das Renommier-Flaggschiff der Öffentlich-Rechtlichen, der »Tatort«. Folge: Gemäss dem Gesetz der kommunizierenden Röhren kommen die guten Stoffe schon seit längerem aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, den USA. Ob »Sopranos«, »The Wire« oder das neue Serien-Highlight »Breaking Bad«: Das neue US-Erzählfernsehen hat sich längst als eigenständiges Medium etabliert – als zeitgemässes Format, um anspruchsvolle Geschichten zu schildern. Ein wesentliches Merkmal dabei: die ambivalenten Hauptfiguren und Handlungen. Nicht Gut und Böse sind im neuen Ami-TV gefragt. Sondern vielmehr die Wirklichkeit – beziehungsweise das unentdeckte Drama, das sich hinter selbiger verbirgt.
Authenzität statt Moral
Eine dieser neuen Serien ist das Biker-Melodram »Sons of Anarchy«. Wer »Sons of Anarchy« dechiffrieren will, findet in diesem Epos massig Stoff. Ebenso natürlich jene Moral überproduzierenden Zeitgenoss(inn)en, die das Genre insgesamt als brutal, frauenfeindlich, outlawverherrlichend und so weiter brandmarken bzw. am liebsten auf den Index setzen möchten. Drehbuchautor Kurt Sutter hat das Metier bereits in der Vorgängerserie »The Shield – Gesetz der Gewalt« ausgereizt – einer über sieben Staffeln erzählten Geschichte über eine Polizei-Spezialtruppe, deren Protagonisten Stück für Stück im metropolitanen Treibsand aus Verbrechen, Korruption und Gangkriminialität versinken. Den Hauptschauplatz von »Sons of Anarchy« hat Sutter in der nordkalifornischen Region um Oakland angesiedelt. Hauptschauplatz ist die fiktive Stadt Charming. Der Redwood Original-Ableger des Sons of Anarchy Motorcycle Club – abgekürzt SAMCRO – erscheint zu Serienbeginn als idealisierter Platzhalter für die Gründergeneration der Hells Angels Ende der Sechziger Jahre. Die Stimmung von »Wilde Engel«, »Easy Rider« und einem Hauch von Anarchie befördert auch der Soundtrack der Serie: Sixties pur – Rootsrock von Metallica, Creedence Clearwater Revival, viele Bob-Dylan-Coverstücke sowie ein paar neuere Singer-Songwriter.
Der Soundtrack fungiert innerhalb der Serie nicht nur als Stimmungsverstärker, sondern als Synonym. Die guten, alten Träume – von Liebe, Freiheit, von Selbstbestimmung, Brüderlichkeit und dem eigenen Weg, den jeder gehen muss – sie wollen nicht sterben, vergehen. Brothers – abgekürzt: Bro’s – sind vor allem Clay Morrow (Ron Perlman), der abhalfterte, mit allen Wassern gewaschene »Präsi« von Charmings Anarchiesöhnen sowie sein Stiefsohn, Clubvize Jax Teller (Charlie Hunnam). Der Grundplot nimmt auf die alten Hippieträume direkt Bezug. Jax’ Vater, auf nicht geklärte Weise bei einem Motorradunfall zu Tode gekommen, hat seinem Sohn ein Vermächtnis hinterlassen – ein Tagebuch, welches das Abdriften des Clubs in den organisierten Waffenhandel ebenso kritisiert wie die verlorengegangenen Ideale. Entlang der Achse Realität–Ideal positionieren sich auch die beiden Frauen-Hauptfiguren. Auf der Seite der Realität steht die Gang-Patriarchin: Biker-Queen Gemma Teller-Morrow (fulminant gespielt von Drehbuchautor Sutters Lebenspartnerin Katey Segal). Den Part der bürgerlichen Einsteigerin ins gesetzlose Rockerleben übernimmt Jax’ Geliebte und spätere Frau Tara Knowles (Maggie Stiff) – praktischerweise Ärztin im örtlichen Krankenhaus und für den Konflikt Geliebte–Schwiegermutter geradezu prädestiniert.
Der über bislang sechs Staffeln ausgetragene Grundkonflikt der Serie wurde vielerorts mit dem von Shakespeares »Hamlet« verglichen, beziehungsweise »Macbeth«, einem weiteren Shakespeare-Drama: Thronanwärter kontra König, Vater gegen Sohn. Ödipaler Mord und andere klassische Motive schwingen als Grundton in der Serie sicher mit. Bemerkenswert an »Sons of Anarchy« ist allerdings vor allem, mit welch rücksichtsloser Konsequenz Autor Sutter seine Helden – inklusive den handlungstragenden Personenbestand der Serie – zerlegt. Die erste, 2008 erstausgestrahlte Staffel, leistet das, was Pilotstaffeln gemeinhin leisten. Sie baut die wesentlichen Handlungsstränge auf, führt Grundkonflikte und Personal ein. Wozu im konkreten Fall auch eine Detailkartografie der unterschiedlichen MC-Chapter, ethnisch sortierten Streetgangs, Drogenkartelle und ermittelnden Polizeibehörden gehört. Die zweite, 2009 erstausgestrahlte Staffel vertieft den Plot der ersten und führt im Wesentlichen weitere Handlungsprotagonisten ein.
Essentielle, den Grundtenor verändernde Einschnitte markieren die dritte sowie fünfte Staffel. Die dritte, 2013 von deutschen Privatsender Kabel eins ausgestrahlt und handlungsmässig grossteils in der nordirischen Post-Bürgerkriegstristesse angesiedelt, führt ein neues Level von Härte in die Serie ein – von Erbitterung, mit der die Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Fraktionen auf beiden Seiten des Gesetzes geführt werden. Die vierte (bislang nur in untertitelter Version erhältliche) Staffel schliesst daran an, vertieft darüber hinaus die Grundkonflikte zwischen Stiefvater und Sohn sowie den beiden beteiligten Frauen. Die Staffeln fünf und sechs schliesslich erweitern das Kampfterrain in fast jeder Beziehung – sowohl nach aussen als auch nach innen. Von Heldentum, von Romantik kann weit und breit keine Rede mehr sein. Die Szenerie ist geprägt von neuen Beteiligten (darunter der smarte White-Collar-Gangster Demon Pope sowie der – sympathisch gezeichnete – Escortservice-Betreiber Nero Padilla), und vom Kampf jeder gegen jeden. Sutter seziert seine Geschichte dabei buchstäblich mit dem Messer. Eine siebte, abschliessende Staffel der Serie ist zwar in Planung. Ob sie ausreichend Personal hinterlässt für eine weitere Fortsetzung, darf allerdings bezweifelt werden. Immerhin: Ein Prequel in Form einer Miniserie hat Kurt Sutter bereits in Aussicht gestellt.
Die Wiederkehr des White Trash
Helden mit Kippe im Mund auf der Harley, typische White-Trash-Thematik, Verherrlichung von Outlaw-Motorradclubs wie der Hells Angels oder Bandidos, das fragwürdige Verhältnis der Protagonisten zu Frauen – all das wurde in der (übrigens überwiegend positiven) Rezeption der Serie zur Sprache gebracht. All das mag stimmen – oder auch nicht. Auffällig sind die Parallelen zu einer anderen Ikone der modernen US-Film-Popkultur: dem Regisseur Quentin Tarrantino. Allerdings: Treffend ist der Vergleich allenfalls im oberflächlichen Sinn, in Bezug auf die Kubikliter Filmblut, die vergossen werden. Tarrantino – trotz »Inglourious Bastards« und »Django Unchained« – ist letzten Endes ein Postmoderner, ein Zyniker, ein Zitatfreak. »Sons of Anarchy«-Autor Kurt Sutter hingegen zelebriert letztlich das genaue Gegenteil. Sutter nimmt Geschichten und Personal seiner Serien ernst – blutig ernst sogar. SOA scheut nicht das Pathos; die melancholische Feuerzeug-Rockballade dient hier ebenso der Charakteruntermalung wie die zahlreichen ruhigen, den jeweiligen Stand der Figuren betonenden Szenen.
Sonstige Vergleiche? Wer den anspruchsvolleren, geschichtenerzählenden Teil der deutschen Serienproduktion verfolgt, wird sicher die beiden Highlights der letzten Jahre aufführen: Dominik Grafs Miniserie »Im Angesicht des Verbrechens« und die innovative, preisgekrönte ZDF-Serie »KDD«. Mit Blick aufs Kernland der neuen Serien-Erzählform lässt sich allerdings ein neuer Trend ausmachen: Die Themen des White Trash sind in die Popkultur zurückgekehrt. »Sons of Anarchy« ist letzten Endes nicht Tarrantino, auch nicht Graf-Roadmovie oder vergleichbar mit dem abgespeckten Stil von »Kriminaldauerdienst« (auch wenn diese Serie in manchen Momenten an die SOA-Vorgängerserie »The Shield« erinnert). Will man »Sons of Anarchy« historisch korrekt einordnen, ist vielleicht am ehesten der Vergleich mit den Italo-Western der Sechziger und Siebziger-Jahre angemessen. Auch sie inszenierten die Amoralität, den finalen Befreiungsschlag, den Bruch der Konvention, den Einzelnen und sein Weg. Darüber hinaus waren Django, Ringo & Konsorten bestes Popcorn-Kino – Befreiungsschläge nicht nur im Hinblick auf das Genre. Sondern – darüber hinaus – Befreiungsschläge im Rahmen einer Popkultur, die auf Aufbruch hin gebürstet war. Aufbruch zu neuen Ufern: Der Aufbruch der Sixties führte nicht nur zu Jimi Hendrix, Janis Joplin, den Stones und Grateful Dead. Der Kulturaufbruch verband sich ab Mitte des Jahrzehnts mit einem politischen Aufbruch – jenem Aufbruch, der rückblickend recht unterschiedliche Ergebnisse bescherte: mehr Zivilgesellschaft, mehr savoir vivre, mehr persönliche Freiheiten – aber auch eine neue Karrieristen-Generation, die sich in Form von Rot-Grün zu Anfang des neuen Jahrtausends manifestierte.
Was lehrt uns »Sons of Anarchy«? Zum einen ist SOA natürlich einfach eine saugute, atemberaubende, mit Genuss zu verfolgende Serie (vorausgesetzt, man bringt das nötige Faible für Noir-Stoffe und die damit verbundene härtere Gangart mit). Der Erfolg der Serie zeigt darüber hinaus, dass sich die Epoche saturierter Mittelstandsepigonen mit ihren Selbstfindungsproblemen (wie beispielsweise in »Sex in the City«) ihrem Ende zuneigt. Der White Trash (sicher nicht von ungefähr in der zugespitzten Form eines Bikerclubs) kehrt auf die Bühne zurück – ähnlich wie in den Filmstoffen der Sechziger und Siebziger. Gutverdauliche Epigonen, glatte Moral, unverbindliche Unterhaltung – das war gestern. Korreliert man den Erfolg von Italo-Western und aktuellen Serien auf die derzeitige politische Situation, könnte das hoffnungsfroh stimmen. Denn: Dem letzten politischen Aufbruch ging bekanntlich ein recht veritabler kulturell-subkultureller voraus.
Kommentare 7
Der wesentliche Unterschied zwischen der deutschen und US-amerikanischen TV-Unterhaltung besteht wohl darin, dass sich die Amerikaner Autoren leisten, die sich sehr stark an der Realität orientieren, wie z.B. David Simon, den Autor des True Crime Klassikers The Wire. Daraus entsteht dann glaubhafter Film.
Sehr schöner Blog. Supergern gelesen. Die detaillierte gesellschaftliche Analyse und die filgeschichtliche Einordnung, die Parallelen mit Easy Rider und Wild Angels sind absolut treffend.
»Korreliert man den Erfolg von Italo-Western und aktuellen Serien auf die derzeitige politische Situation, könnte das hoffnungsfroh stimmen. Denn: Dem letzten politischen Aufbruch ging bekanntlich ein recht veritabler kulturell-subkultureller voraus.«
Aber müssten wir uns dann nicht umso mehr Sorgen um das Deutsche Fernsehen machen? Keine der bahnbrechenden Serien der letzten Jahre kommt aus Deutschland. Im Gegenteil, gestern habe ich in einen Münsteraner – also schon mal eine der besseren der Serie – Tatort reingeschaltet: Mit Dialogen – Thema Kindesmissbrauchwaren – so schwerfällig und krude, es war der Hammer. Kann man gar nicht mehr ansehen, was da produziert wird. Wo rekrutiert das ARD eigentlich seine Autoren? Hach, warum gibt es mehr Tiefgang in den Artikeln einer Tageszeitung als in einem Tatortdialog? *grummel, grummel*
Mit Italo-Western kenne ich mich nicht so supergut aus, aber einen finde ich ganz toll: »Il grande silenzio« mit Jean-Louis Trintignant und Klaus Kinski als Killer. Von Sergio Corbucci, 1968. Absolute Oberliga, eine ähnliche Gewichtsklasse, wie Sergio Leones »Spiel mir das Lied vom Tod«.
Sorry, correction: 1. Abs., 2. Zeile >> ... filmgeschichtliche ...
» [...] dass sich die Epoche saturierter Mittelstandsepigonen mit ihren Selbstfindungsproblemen (wie beispielsweise in »Sex in the City«) ihrem Ende zuneigt.«
Das sind gute Neuigkeiten. :-)))
Wie habe ich »Sex in the City« gehasst. Alles, alles. Die Doppelmoral der Serie; das Product Placement; die schlechten, einfallslosen Kameraeinstellungen; die holzschnittartigen Dialoge; die merkwürdigen Schauspielerinnen; den beknackten, abgelutschten Plot.
Am allerschlimmsten, ab einem gewissen Punkt konnte man sich mit einer ganzen Frauen- und Freundinnen-Generation kaum noch unterhalten. Alle waren im SITC-Fieber. Wenn Du nicht wusstest wer Carrie war, oder was sie an hatte, war das sowas wie – and I kid you not – gesellschaftlicher Selbstmord für Frauen; frau war der Komplettloser. (Das ist dann der Punkt, an dem man Männerfreundschaften und Gespräche über Vierzylinder-Viertaktmotoren zu schätzen beginnt) Ein Hoch auf »Sons of Anarchy«, »Breaking Bad«, »The Wire«, »The Sopranos« und all die klugen Leute die diese Serien gerne ansehen.
Top of the Lake war die einzige und letzte dieser gepriesenen amerikanischen Serien, die ich sah. Findet ihr nicht, daß da ein Männlichkeitswahn relaunched wird, den man vernünftigerweise hinter sich gelassen hat?
Übrigens sah ich die Italo-Western damals leidenschaftlich gern; vor allem übrigens die frühen Eastwood-Filme Für ein paar Dollar mehr (1965), Für eine Handvoll Dollars (1964), weil Eastwood auf eine geniale Weise einen absolut selbstironisch auftretenden Typus verkörperte und damit genau dieses jämmerliche Macho-Gewese konterkarierte.
Auch Eastwoods Erbarmungslos (1992) ist ein absolut starker Western, und in Gran Torino (2009) zeigt er eine zunächst machohafte Attitüde, die dann in eine Hinwendung zu den Nachbarn kippt. Beide Filme kann man noch gut sehen, und die alten sowieso.
»Gran Torino« fand ich auch super. Wobei man vielleicht sagen müsste, dass Clint Eastwood irgendwie sowas wie sein eigenes Genre ist, oder?
An »Top of the Lake« war spannend, dass eine gestandene Starregisseurin wie Jane Campion hier tatsächlich einen Film im Miniserien Format für die BBC und das australisch-neuseeländische UKTV gemacht hat. Das Script hat sie auch geschrieben und die Serie produziert. Überhaupt war das Ganze ihre Idee und Campion war die treibende Kraft bei der Umsetzung. Sie kommt ja auch as Wellington, Neuseeland. Ich denke sie wird sich das alles genau überlegt haben und dass ihr die Geschichte sehr wichtig ist, ihr persönlich was bedeutet. Das hat nichts mit dem Relaunch eines Männlichkeitswahns zu tun. Eher im Gegenteil, denn da geht es um gesellschaftlich gebilligte Vergewaltigung und Kindesmissbrauch. Hammerthemen für Vorabendunterhaltung. :-))))
@ Silvio Spottiswoode
Sicher, Eastwood hat sich nach seinen Italo-Western dazu entwickelt und wurde tatsächlich ein Genre ganz unverwechselbarer Prägung.
Mit Top of the Lake hatte ich Probleme. Das lag wohl auch daran, daß es auf arte lief, und zwar zur Sendezeit wie kurz zuvor Borgen. Unter "Hammerthemen für Vorabendunterhaltung" wäre Top of the Lake echt besser sortiert gewesen.
Hinzu kommt auch, daß wir Mitteleuropäer kulturell komplett anders gebürstet sind als Australier. Schwierig, aber man darf das nicht unterschätzen.