Europas Handlanger

Menschenrechte Die Aufrüstung des libyschen Militärs durch die EU und ihre Mitgliedstaaten hat die Situation der Migranten verschärft. Das beschäftigt jetzt auch die UNO.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ein Schiff der libyschen Küstenwache
Ein Schiff der libyschen Küstenwache

Foto: MAHMUD TURKIA/AFP/Getty Images

Das Massensterben geht weiter. 26 ertrunkene Frauen am 5.11., zwischen 5 und 50 Menschen am 6.11., 2.992 Tote sind es laut UNHCR per 14.11. im Mittelmeer seit Anfang des Jahres. Sie werden zweifellos die Liste verlängern, die die Künstlerin Banu Cennetoğlu vor einer Woche zusammen mit dem Tagesspiegel und dem Maxim Gorki Theater veröffentlicht hat. Die Liste enthält „33.293 registrierte Asylsuchende, Geflüchtete und MigrantInnen, die aufgrund der restriktiven Politik der Festung Europas zu Tode kamen“.

Nur wenn es um Verantwortungen geht, herrscht im besten Fall eisiges Schweigen, allzu oft ungenügende Information. Der Zwischenfall vom 6.11., der sich 30 Seemeilen nördlich der libyschen Stadt Tripolis in internationalen Gewässern abgespielt hat, ist ein anschauliches Beispiel.

Das von der Rettungsorganisation Sea-Watch veröffentlichte Dokumentationsmaterial zeigt das ungerechtfertigte wie todbringende Eingreifen der sogenannten libyschen Küstenwache:

Eingebetteter Medieninhalt

Die Höhepunkte, die auch die italienische Tageszeitung Il Fatto Quotidiano in ihrer online-Ausgabe mit einem eigenen Filmschnitt hervorgehoben hat: Die libyschen Milizionäre an Bord verhalten sich so, dass ein Mann wieder ins Meer stürzt, während er versucht, an Bord zu klettern. Da sind die Misshandlungen der auf Deck zusammengekauerten Boatpeople durch die libysche Crew. Und schließlich ist da das Lospreschen des Patrouillenbootes, obwohl noch Menschen im Wasser sind und sich außenbords festhalten.

Die Aufnahmen untermauern die Schilderungen, die Sea-Watch zu den Geschehnissen veröffentlicht hat (hier, hier und hier). Einsatzleiter Johannes Bayer: „Es hätte heute sehr wahrscheinlich niemand sterben müssen, wenn wir die Möglichkeit gehabt hätten, den Rettungseinsatz ruhig und besonnen durchzuführen. Anstatt die Rettung mit den anwesenden Schiffen zu koordinieren, zu denen auch ein französisches Kriegsschiff gehört, haben die Libyer versucht, möglichst viele Menschen zurück nach Libyen zu verschleppen und dabei Tote in Kauf genommen”.

Es ist dies das zweite Mal nach dem 10.5., dass libysches Militär alleine diese Organisation massiv daran gehindert hat, zu intervenieren, obwohl Sea-Watch eng mit dem Koordinierungszentrum MRCC in Rom zusammenarbeitet.

Gleichwohl bleibt in deutschsprachigen Medien eine überwiegende Tendenz hängen, der NGO die Verantwortung an den Toten zuzuschieben.

Eingebetteter Medieninhalt

Der Zwischenfall erhält seine Brisanz erst recht, weil sich die Frage nach der Verantwortung an die Staatskanzleien Europas richtet.

Italiens Tausch für weniger Boatpeople: Militärgerät

Das involvierte libysche Schiff trägt die Kennzeichnung „648“ (~Min. 08:17 des Videos). Es ist das gleiche Patrouillenboot der Klasse „Bigliani“, das zuerst von dem damaligen Ministerpräsident Silvio Berlusconi an Diktator Muammar Muhammad al-Gaddafi zum Geschenk gemacht worden war.

Während des ersten Bürgerkriegs mit 3 Schwesterschiffen in einen Hafen am Capo Miseno bei Neapel ausgelagert,

Eingebetteter Medieninhalt

Luftaufnahme der vier Patrouillenschiffe der Klasse "Bigliani" im Hafen von Capo Miseno (Screenshot). Eine Nahaufnahme der "648" ist hier zu sehen

wurde es von der italienischen Marine wieder instandgesetzt. Am 15. Mai 2017 wurde die „648“ von Italiens Innenminister Marco Minniti zusammen mit den anderen drei Einheiten in einer Feierstunde in der Marinebasis Abu Sitta bei Tripolis an Verteidigungsminister Al-Mahdi Al-Barghathi übergeben.

Italiens Innenminister Marco Minniti bei der Übergabe der „648“ an libysche Offizielle in Abu Sitta

Foto: MAHMUD TURKIA/AFP/Getty Images

Die vier Schiffe, denen weitere sechs anderer Klassen folgen sollen, sind Teil des Memorandums, das Italien im Februar 2017 mit der sogenannten Regierung der Nationalen Einheit Libyens geschlossen hat. Es widmet sich hauptsächlich dem „Kampf gegen die illegale Einwanderung“ und „der Stärkung der Sicherheit der Grenzen“.

Schon lange wird der bilaterale Vertrag von Menschenrechtsorganisationen als rechtswidrig eingestuft. Er verstoße gegen das Refoulement-Verbot, so etwa die italienische Studiengruppe zum Migrationsrecht ASGI, und unterlaufe das von der italienischen Verfassung gewährleistete Asylrecht. Die deutsche Organisation Pro Asyl und die Heinrich Böll-Stiftung sprachen schon zu Zeiten von Berlusconi von einer „Flucht- und Migrationsverhinderung“, einem „arbeitsteiligen Völkerrechtsbruch“ zwischen EU und Libyen.

Die Auffassung vertritt nun auch der Menschenrechtskommissar des Europarates Nils Muižnieks. Am 11.10. veröffentlichte er einen Brief an Minniti, in dem er ausdrücklich auf das Refoulement-Verbot verwies. Gleichzeitig fragte Muižnieks nach der mittelbaren Verantwortung Italiens, wenn das Land die „tatsächliche Kontrolle oder Hoheit über ein Individuum auf dem Gebiet oder in den territorialen Gewässern eines anderen Staates ausübt“.

Der Innenminister antwortete ausweichend: Italienische Boote der Marine würden selbst keine Ausschiffungen in Libyen vornehmen. Im Übrigen seien die Initiativen Italiens, „dessen jüngste Strategie Italiens auf europäischer Ebene geteilt und geschätzt“ würde, „vollständig mit der Kommission und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union abgestimmt“.

Die europäische Aufrüstung von Warlords: Zu den Schiffen, ausgebildete Crews

Das betrifft zu den geschenkten Schiffen auch die Crew der „648“. Deren Ausbildung als „Küstenwacht“ ist Bestandteil der EU-Marineoperation EUNAVFOR Med/Sophia. Sie soll neben der militärisch-nautischen auch eine Schulung zu Menschenrechten für Flüchtlinge und Migranten umfassen.

Deutschland ist dabei unmittelbar involviert: Mit Ausbildern ebenso wie bei der Entscheidung, ob prinzipiell mit einer Soldateska zusammen zu arbeiten ist, deren Befehlshaber entweder Warlords, Clanführer oder eine prekäre sogenannte Regierung der Nationalen Einheit sind. Dazu die wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages: „Die internationale Anerkennung einer lokalen Regierung -vor allem wenn sie politisch gewollt ist- beinhaltet immer auch die Erwartung einer ‚self-fulfilling-prophecy‘. Die Anerkennung geht deshalb regelmäßig einher mit einer entsprechenden Unterstützung dieser Regierung durch das Ausland“.

Egal, ob die Militärs an Bord der „648“ das mit den Menschenrechte nicht so recht verstanden haben oder sich Dank der „entsprechenden Unterstützung“ ermächtigt fühlen, Rettungsschiffe abzudrängen, sie zu beschießen, ihre Mannschaften mit Gewalt zu bedrohen und Boatpeople ertrinken zu lassen: Der Aufbau der Exekutive im Bürgerkriegsland Libyen geht in Kenntnis und vollem Bewusstsein europäischer Staaten von schwersten Rechtsverletzungen einher, deren unmittelbare Täter in Tripolis sitzen.

Auch hier bildet Deutschland keine Ausnahme. In einem umfangreichen Fragenkatalog zu den „asylpolitischen Libyen-Plänen der EU-Innenminister im Kontext der humanitären Lage vor Ort“ erkundigte sich im Sommer die Linke-Fraktion bei der Bundesregierung eingehend auch zu Abdurahman Salem Ibrahim Milad, genannt Al Bija. Die stereotype Antwort zu dem Schiffskommandeur und „Warlord als Türsteher zur Hölle“, wie er in deutschen Medien tituliert wurde: Die Beantwortung der Fragen könne „aus Geheimhaltungsgründen nicht offen erfolgen“. Eine Unterrichtung der Öffentlichkeit findet also nicht statt.

Abdurahman Salem Ibrahim Milad, genannt Al Bija, screenshot

Abdurahman Salem Ibrahim Milad, genannt Al Bija, screenshot

Nach dem Auswärtigen Amt („KZ-ähnliche Verhältnisse“), den Berichten von NGOs wie dem von Médecins sans Frontières („Inbegriff menschlicher Grausamkeit in ihrer extremsten Form“) und unzähligen Reportagen wie der von Michael Obert („Die Menschenfänger“) hat sich nun auch die UNO zu Wort gemeldet.

UNO: "Frevel gegen das menschliche Gewissen"

Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCHR) Seid bin Ra’ad Seid Al-Hussein hat in seiner Aussendung vom Dienstag keine Zweifel gelassen:

"Das Leid der Migranten, die in Libyen gefangen gehalten werden, ist ein Frevel gegen das menschliche Gewissen. Was bereits eine schreckliche Situation war, ist nun katastrophal geworden. Das Haftsystem in Libyen ist irreparabel kaputt.
Die internationale Gemeinschaft kann nicht weiter die Augen vor dem unvorstellbaren Horror verschließen, den Migranten in Libyen erdulden und so tun, als würde sich die Situation durch Erleichterung der Haftbedingungen verbessern lassen."

Seine scharfe Kritik richtet Al-Hussein ausdrücklich gegen die EU und Italien, „die der libyschen Küstenwache Beihilfe leisten, Migrantenboote im Mittelmeer einschließlich der internationalen Gewässer abzufangen“. Die „zunehmenden Interventionen der EU und ihrer Mitgliedstaaten“ haben aber „nichts getan, um den Grad der von Migranten erlittenen Misshandlungen zu mindern. Unsere Feststellungen zeigen im Gegenteil eine rapide Verschlechterung der Bedingungen in Libyen.“

Dass auch diese Meldung deutschen Medien kaum mehr als ein paar Zeilen Wert gewesen ist,

Eingebetteter Medieninhalt

kann an der Stelle kaum verwundern. Denn der weltweit ranghöchste Menschenrechtler erhebt gleich zwei Forderungen, die als europäische No-Go-Areas gelten: Die Schaffung einer rechtlichen Struktur, um den vollständig von Rechtsbehelfen Abgeschnittenen zu ihren Menschenrechten zu verhelfen. Und er verlangt die Entkriminalisierung der irregulären Migration, deren Straftatbestände Libyen das vordergründige Alibi verschaffen, Migranten wie Kriminelle zu internieren.

Die Liste von Banu Cennetoğlu müsste um die Namen und Schicksale derer verlängert werden, die mit deutscher, italienischer und europäischer Hilfe in den libyschen Lagern umkommen. Dazu müsste es Listen geben, wer verletzt, verschleppt, vergewaltigt, erpresst oder als Sklave verkauft wird.

Allein, die Handlanger Europas halten Journalisten nach Möglichkeit fern. Zu viel Öffentlichkeit schadet dem Geschäft:

People for sale - Where lives are auctioned for $400, CNN, 14.11.2017

Eingebetteter Medieninhalt

crossposting zu die Ausrufer

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden