Grenzregime 2

Flucht|Migration Ist Seenotrettung eine Frage der Moral? Urteile aus Italien zeigen: Sie ist eine Frage der Rechtsstaatlichkeit

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Wer rettet, begeht keine Straftat
Wer rettet, begeht keine Straftat

Foto: Omer Messinger/AFP/Getty Images

Ist Seenotrettung tatsächlich "eine Frage der Würde" und damit eine der Moral, wie unlängst der Philosoph Patrick Spät in der Wochenzeitung der Freitag räsonierte? Gibt es bei der Bezeichnung von Carola Rackete wirklich nur die Wahl zwischen "Vorbild oder Verbrecherin" (Augstein und Blome bei Phoenix)? Und muss die "Sea Watch 3" als Symbolbild für den Podcast "Sind Seenotretter die Helfer von Schlepperbanden?" von Orange by Handelsblatt herhalten, wenn genau diese Frage in 10 Minuten Sendung gerade einmal 30 Sekunden lang behandelt wird?

Eine Antwort könnte lauten: Nein, denn die Konfrontation hat sich in die Gerichtssäle verlagert, und dort wird ein anderes Bild gezeichnet. Davon ist das Urteil vom 2. Juli, mit dem die U-Haft gegen Rackete aufgehoben und ihre Abschiebung außer Landes verweigert wurde, zwar nur ein Teil und das auch nur vorläufig; die eigentliche Anklage ist von der Staatsanwaltschaft noch nicht einmal formuliert.

Aber die Begründung, die Untersuchungsrichterin Alessandra Vella in Agrigent vorgelegt hat, ist paradigmatisch (Entscheidung im Original, pdf, italienisch): Für Rackete bestand eine Rettungspflicht. Diese war erst mit der Anlandung der Geretteten in Lampedusa erfüllt. Die dem zugrundeliegenden Prinzipien ergeben sich aus dem Völkergewohnheitsrecht, dem Seerechtsübereinkommen von 1982, dem internationale Übereinkommen von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS) und dem Search-and-Rescue-Abkommen (SAR) von 1974. Da Italien sich verpflichtet hat, die Prinzipien zu beachten, kann kein nationales einfaches Gesetz oder ein Dekret entgegengesetzte Wirkung entfalten. Sie würden gegen höherrangiges Recht verstoßen.

Kriminalisierung der Rettung ist rechtswidrig

Aus der Entscheidung lässt sich zwanglos die Fortführung der Erwägungen ablesen, die vor knapp zehn Jahren am selben Gerichtsort die Verantwortlichen der "Cap Anamur" vollumfänglich freigesprochen haben: Wer rettet, begeht keine Straftat. Jetzt kann hinzugefügt werden: Der Versuch der Kriminalisierung von Rettung ist seinerseits rechtswidrig.

Der Rechtswissenschaftler und Strafrechtsprofessor an der Mailänder Università degli Studi Stefano Zirulia hat in einer ersten kurzen Analyse das Urteil als "weiteren Knotenpunkt in einem dichter werdenden Netz aus Rechtsprechung und Soft-Law" bezeichnet, "das allmählich die Rechtsstaatlichkeit wieder in den Vordergrund stellt".

Das ist noch nicht bei allen angekommen. Nach wie vor heißt es in Italien überwiegend "delitto di solidarietà", eine Straftat aus Solidarität, um wenigstens die moralische Legitimität einer ansonsten als illegal erachteten Handlung zu betonen. Erst im Vergleich mit Urteilen wie denen aus Agrigento wird deutlich, wie sehr also die Kriminalisierung in Wahrheit auch in den Köpfen selbst derer festsitzt, die der Seenotrettung gegenüber positiv eingestellt sind und sie unterstützen. Die eingangs erwähnten Titelgebungen zeigen den entsprechenden Zustand in Deutschland: Die Rackete vorgeworfenen Taten sind aus Anklageperspektive allenfalls Vergehen, keine Verbrechen.

Klar wird auch, dass viele der damit zusammenhängenden Konflikte ohne Inszenierung gar nicht existieren würden. Mit Blick auch auf das in Deutschland von den Unionsinnenministern vorgebrachte Mantra vom "Wir müssen wissen, wer zu uns kommt" hat der Europarat im Juni die Denkschrift "Lives Saved. Rights Protected" veröffentlicht.

Dort heißt es: "Whilst states have the right to control their borders and ensure security while co-operating with neighbouring countries to this end, this cannot come at the expense of people’s human rights whether at sea or on land. Effectively protecting these rights requires the full implementation of member states’ obligations, under international maritime law, human rights law and refugee law, which should be read as being consistent with each other."

Rechtsstaat gegen Populismus

Der Konflikt besteht auch nicht zwischen Rackete und dem italienischen Innenminister Matteo Salvini, der gleichzeitig Führer der fremdenfeindlichen und rassistischen Lega ist. Die wutschäumenden Beschimpfungen des Mailänder Studienabbrechers in Richtung der deutschen Kapitänin dienten vor allem der Ablenkung von dem eigentlichen Spannungsfeld: Dass die Justiz ihrer Aufgabe nachkommt und der Exekutive auf die Finger (sc)haut.

Das könnte auch der Grund sein, warum ein deutscher Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) entgegen der eigenen Politik der Grenzschließungen sich an seinen italienischen Kollegen wendet und ihn aufgefordert hat, die Häfen für Gerettete offen zu halten: Zuviele gerichtliche Präzedenzfälle lassen sich irgendwann nicht mehr aus der Welt schaffen.

Freilich, Gesetze lassen sich ändern, Verträge kündigen und die Urteile erster Instanz in der nächsthöheren aufheben. Einiges an "Verschärfungen" kündigt sich in Italien bereits wieder an. Dem Vernehmen nach sollen demnächst Militärschiffe vor Häfen verankert werden, um die Einfahrt von Rettungsschiffen notfalls gewaltsam zu verhindern.

Fakt aber ist, dass das derzeitige rechtliche Gehör die politische Taubheit ersetzt, dass Urteile mehr und besser gestalten als Verwaltungsmaßnahmen einer fehlgeleiteten Exekutive oder jede Opposition dagegen. Die Justiz zeigt, dass sie einen langen Atem hat, jedenfalls einen längeren als der politische Alarmismus von Demagogen am rechten Rand.

Die Besonnenheit wäre auch Medien zu wünschen: Umso mehr je weiter sie vom Ort des Geschehens entfernt sind und das Verständnis erschwert ist. Und die Moral? Ich fürchte, da gibt es einfach zu viele Macheath.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

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