„Israel geht zum Angriff über“, sagt der ultrarechte Minister Ben-Gvir

Meinung Palästinenser im Westjordanland werden für vogelfrei erklärt, wenn die Regierung Netanjahu Siedler bewaffnen will, was sie teilweise schon sind. Es hätte sonst keine derartige Zunahme von Gewalt in den besetzten Gebieten gegeben
Ausgabe 05/2023
Die israelische Armee erklärt Ortseingänge mehrerer palästinensischer Gemeinden zu militärischem Sperrgebiet
Die israelische Armee erklärt Ortseingänge mehrerer palästinensischer Gemeinden zu militärischem Sperrgebiet

Foto: Jalaa Marey/AFP/Getty Images

Für die Organisation „Islamischer Dschihad“ hat ein neuer Aufstand gegen Israel begonnen. „Wir befinden uns im Zustand einer bewaffneten Intifada“, so ein Sprecher dieser palästinensischen, islamistischen Gruppierung am Wochenende. „Das ist es, was nötig ist, um die Besatzung zu beenden.“ Tags zuvor hatte ein 21-jähriger Palästinenser in der jüdischen Siedlung Neve Yaakov in Ostjerusalem sieben Israelis erschossen, am Samstag verletzte ein 13-Jähriger in der Nähe der Klagemauer einen jüdischen Vater und dessen Sohn mit Schüssen aus einer Pistole.

Zugang zu Waffen

Eine solche Eskalation der Gewalt in Palästina und Israel ist nicht neu; seit März 2022 hat eine Serie von Anschlägen im israelischen Kernland zu einer wachsenden Militarisierung geführt. Mehr als 170 Palästinenser wurden im vergangenen Jahr durch israelische Sicherheitskräfte getötet, so viele wie seit dem Ende der Zweiten Intifada 2005 nicht mehr.

In den ersten 28 Tagen des neuen Jahres starben bereits 31 Palästinenser, darunter mehrere Jugendliche. Allein bei einer Operation israelischer Armeeeinheiten in Dschenin wurden am Donnerstag der Vorwoche neun Menschen getötet, die meisten Angehörige bewaffneter Palästinenserorganisationen, aber auch eine 61-jährige Frau.

Befeuert wird der Konflikt durch die neue rechtsreligiöse Regierung in Jerusalem, die gerade einmal vier Wochen im Amt ist – und offen für die Annexion weiter Teile des seit 1967 völkerrechtswidrig besetzten Westjordanlandes eintritt. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat nun angekündigt, man wolle für israelische Bürger den Zugang zu Waffen vereinfachen. Das hatte schon am Abend des Attentats nahe der Ateret-Avraham-Synagoge in Neve Yaakov der rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, verlangt. Seine Forderung: „Wir müssen mehr und mehr Bürger bewaffnen.“

Bis zur Selbstjustiz ist es dann vermutlich nicht mehr weit, zumal die Gewalt jüdischer Siedler in den besetzten Gebieten seit Jahren immer mehr zunimmt. In der Nacht auf Sonntag wurden in zwei palästinensischen Dörfern Autos und ein Haus angezündet, laut Angaben von Sicherheitskreisen offenbar eine Vergeltung für die Anschläge in Jerusalem. Um eine weitere Eskalation zu vermeiden, erklärte die Armee die Ortseingänge mehrerer palästinensischer Gemeinden zu militärischem Sperrgebiet. Protestierenden Siedlern konnte so der Zugang verwehrt werden.

Die Zeichen vor der gerade beginnenden Nahostreise von US-Außenminister Antony Blinken stehen demnach auf Sturm. „Israel geht zum Angriff über und wird sich nicht mehr allein nur verteidigen“, kündigte Ben-Gvir nach der Kabinettssitzung am Wochenende an. In der Nacht zuvor hatten israelische Sicherheitskräfte das Haus versiegelt, in dem der Attentäter von Neve Yaakov wohnte, um es für eine Zerstörung vorzubereiten – ein Schritt, den die zur Hälfte von rechtsextremen und rechtsreligiösen Ministern besetzte Regierung neben der Lockerung der Waffengesetze beschlossen hat. Zudem sollten Siedlungen im Westjordanland „gestärkt“ werden.

Brennpunkt Jerusalem

Genau das zu verhindern, ist eigentlich das erklärte Ziel von Blinkens Tour durch die Konfliktregion. Doch wie es dem US-Außenminister bei seinen Treffen in Jerusalem gelingen soll, ein überaus siedlerfreundliches Kabinett davon abzuhalten, jetzt blank zu ziehen – das ist schwer vorstellbar. Zumal in naher Zukunft eher mehr als weniger Gewalt droht: In acht Wochen beginnt der muslimische Fastenmonat Ramadan, der im April mit dem jüdischen Pessach-Fest zusammenfällt. Wie im Frühjahr 2021, als sich der bislang letzte Gaza-Krieg an einem Streit um Jerusalem entzündete, dürfte auch dann die Heilige Stadt wieder zum Brennpunkt werden.

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Geschrieben von

Markus Bickel

Journalist. Büroleiter Rosa-Luxemburg-Stiftung Israel (Tel Aviv). Davor Chefredakteur Amnesty Journal (Berlin), Nahostkorrespondent F.A.Z. (Kairo)

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