Kritik an Charlotte Gneuß' „Gittersee“: Ostdeutscher kann ein Vorgang nicht sein

Meinung Die Fetzen der ostdeutschen Identitätspolitik fliegen einmal mehr: Der Dresdner Autor Ingo Schulze stört sich an Charlotte Gneuß' Debütroman und schickt ihrem Verlag eine Mängelliste zu. Denn er hat das im Osten anders erlebt
Ausgabe 38/2023
Unsere Autorin enerviert die jüngsten Runde im Streit um die ostdeutsche Identität
Unsere Autorin enerviert die jüngsten Runde im Streit um die ostdeutsche Identität

Foto: Hanns-Peter Beyer / picture alliance / ZB

Jede Saison braucht einen Literaturskandal, der bedürftigen Feuilletonisten Fingerübungen in Sachen Polemik erlaubt. Wie bestellt haben wir nun den Salat, äh, Skandal, in Form einer mehr als despektierlich geführten Debatte um einen Debütroman. Was war passiert? Der Dresdner Autor Ingo Schulze hatte eine „Mängelliste“ zu dem für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominierten Roman Gittersee der Autorin Charlotte Gneuß erstellt und dem S. Fischer-Geschäftsführer Oliver Vogel zukommen lassen. Die Bücher beider Autoren erscheinen in dem Verlag.

Man habe in den 70er-Jahren nicht in der Elbe gebadet, monierte Schulze beispielsweise. Das könnte man gerade noch unter paternalistischer Besserwisserei verbuchen. Leider landete die Mängelliste bei der Jury des Deutschen Buchpreises und die FAZ berichtete darüber. Damit wurde die Sache öffentlich und peinlich. Für Schulze, weil einem Autor die Besserwisserei nicht gut zu Gesichte steht. Für die FAZ, die den eigentümlichen Zwischenfall unter der Überschrift „Akte Gneuß“ öffentlich machte.

Vielsagend auch die FAZ-Inszenierung des Streits, da man Porträts der beiden Autoren mit vielsagenden Bildunterschriften versah. So erfuhr man, dass Schulze in Dresden geboren wurde und vielfach preisgekrönt sei. Gneuß dagegen wird als Westautorin geframt – trotz ostdeutscher Eltern und obwohl sie in Dresden lebte. Allerdings lässt sich die Korrektur dieses falschen Framings bereits auf eine irre identitätspolitische Debatte ein. Nach Jahrzehnten der naiven Ostalgie sind wir im Osten nun bei einer eigentümlichen Identitätspolitik angelangt, laut der sich der Wessi aufgrund mangelnden Sachwissens in Debatten über unser Sein nicht mehr einzumischen hat.

Neuer Stellvertreter, alte Debatte

Der Streit köchelt auf Sparflamme dahin. Wie im Topf blobbt es bisweilen hoch und die Küchenfliesen werden eingesaut. Eingesaut wird nun ein Romandebüt, das allein durch die Longlist-Nominierung für viel Aufsehen gesorgt hat und literarisch überzeugt, selbst den älteren Schriftstellerkollegen.

Nun erinnert der Modus der Kritik Ingo Schulzes auf tragikomische Art an eine Eingabe beim ZK. Ostdeutscher könnte ein Vorgang nicht sein. Schulze hätte Gneuß ebenso gut eine Mail schreiben können. Ob Schulze sich gegen die Zustellung einer Mängelliste durch einen DDR-Kulturfunktionär verwahrt hätte?

Nun dürfte der Roman aus einem wesentlichen Grund die Gefühle in Wallung bringen: Da schreibt eine junge Frau und Angehörige der Wendekindergeneration über eine Zeit, die sie nicht erlebt hat. Der Roman behandelt wieder einmal eine Stasigeschichte. Hat man das Narrativ des Spitzelstaates nicht überwunden? Doch ist es nur logisch, dass Gneuß ihre Heldin Karin mit einem Spitzeldilemma konfrontiert: Es gibt etliche Romane über unglückliche Familien, doch wenige über glückliche. In Filmen geht die Welt häufiger unter als in der Realität. Es spielt keine Rolle, wie viele Romane sich bereits einer Stasigeschichte annahmen. Im Grunde handelt es sich um das Unglück der späten Geburt, weil andere altersbedingt vor Gneuß diese Art von Geschichte erzählten.

Aus diesem Skandal gehen beide Autoren mit einer Beschädigung hervor. Nun könnte man kaltschnäuzig sagen, dass jede Presse gute Presse ist. Für Verkaufszahlen mag das allemal stimmen. Doch rechtfertigt das keineswegs das symbolische Abarbeiten an einem Text, der als neuerlicher Stellvertreter für eine alte Debatte herhalten muss.

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

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