"Ossis? Die Flüchtlinge sind mir lieber"

Wiedervereinigung Mit der Einheit in den Köpfen hapert's auch 25 Jahre nach der Deutschen Wiedervereinigung. An mangelnder Integrationsfreude der Ostdeutschen liegt es wohl kaum

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Berlin, 3. Oktober 1990
Berlin, 3. Oktober 1990

Bild: GILLES LEIMDORFER/AFP/Getty Images

Wiedervereinigung. Ein schönes Wort. Bei Vereinigung denkt man an zwei Liebende, die sich eng umschlingen, deren Köper, für Minuten oder Stunden - je nach Durchhaltevermögen -, eins werden. Eine Nation freilich, die braucht viel Stehvermögen.

Zusammengehörigkeit. Noch so ein schönes Wort. Am Morgen des 3. Oktobers, des Einheitstages also, habe ich auf Facebook bei mehreren Freunden eine Botschaft wie diese gelesen: Es ist den Deutschen vor 25 Jahren gelungen, 17 Millionen Ostdeutsche – Wirtschaftsflüchtlinge also! – aufzunehmen. Warum soll es jetzt nicht klappen, mit ein paar Hunderttausend Syrern und Afghanen? Das sollte eine Botschaft sein, die Mut macht. Mich machte sie ziemlich wütend.

Ich weiß natürlich, welche Aussage intendiert war: Dass man schon einmal eine große finanzielle Anstrengung auf sich nahm, um die Fremden zu integrieren. Dass die Nation die nötige Kraft aufbringen kann. Aber die Botschaft zwischen den Zeilen kann man auch nicht übersehen: Der Vergleich von Syrern und Ostdeutschen zeigt, wie fremd die Ostdeutschen so manchem Westdeutschen noch immer erscheinen. Und dass einige keinen Unterschied zwischen den Menschen aus dem nahen Osten der Republik und jenen aus dem Nahen und Mittleren Osten sehen.

Eigentlich überrascht es mich gar nicht. West-Berliner Freunde und Bekannte sagen mir immer wieder, dass sie noch nie in Dresden waren, "obwohl das bestimmt einmal interessant wäre". Und nicht einmal zwei Autostunden entfernt liegt.

Wenn man eine fremde Kultur kennenlernen will, dann reist man. Dann möchte man die Menschen mit ihren seltsamen fremden Bräuchen und Sprachen hautnah erleben. Den fremden Ossi möchte man wohl aber nicht in seinem Biotop erkunden. „Nach dem, was da gerade so mit Pegida los ist, möchte man ja ohnehin nicht nach Dresden.“ Gut, in den 24 Jahren vor Pegida gab es bestimmt wichtige andere Gründe, Dresden und andere Teile des Ostens nicht zu bereisen.

Entschuldigung, aber als Ostdeutscher hat man das Gefühl, dass man nicht unbedingt auf viel Gegenliebe oder Neugierde bei Westdeutschen stößt. Dass man ein lästiges Anhängsel ist, das man wohl oder übel irgendwie integrieren musste. Nicht viel Brüderlichkeit, wenig Herzenswärme. (Vielleicht sind wir Ossis aber auch nur "butthurt", wie der Amerikaner so schön sagt.)

Vielleicht ist ja diese Erwartung falsch. Vielleicht verhält es sich wie in mancher Vernunftehe: Lieber nicht zu viel Gefühl. So hält die Gemeinschaft auf Dauer länger.

Müssen sich Ostdeutsche integrieren?

So eine Vernunftehe bedarf dann aber einer Einigung. Einer Einigung auf Augenhöhe, wie sie sich damals im Wendejahr Günter Grass für die beiden noch geteilten deutschen Staaten wünschte. Genau diese Augenhöhe fehlt. Nicht nur damals, auch heute.

Das zeigt auch ein bemerkenswertes Interview mit Jakob Augstein im Deutschlandfunk, in dem er sagte:

„Die Akkulturation ist noch nicht abgeschlossen. Und deshalb noch mal: Die Integration des Ostens ist noch nicht abgeschlossen, […] auch diese Brüder und Schwestern müssen sich offensichtlich teilweise immer noch integrieren in unser größer gewordenes Deutschland, ganz genauso wie die Syrer."

Er haut also nicht nur in dieselbe Kerbe wie die Facebook-Kommentare am Einheitsmorgen mit dem Vergleich von Syrern und Ostdeutschen (worauf eine Leserin antwortet: "Die Flüchtlinge sind mir lieber"). Er spricht auch von der Integration des Ostens. Das verwundert nun sehr. Denn auch die Ostdeutschen sind ja Deutsche. Teilen Sprache und Kultur. Warum also "Integration"?

Ich frage bei Jakob Augstein nach: Müssen sich Ostdeutsche tatsächlich integrieren?

Er antwortet mit einer Gegenfrage: Müssen sich die Pegida-Leute etwa nicht integrieren?

Ich werde jetzt noch grimmiger. Pegida repräsentiert – zum Glück – nicht all Ostdeutschen, auch nicht die Dresdner, obwohl es Gründe gibt, warum Pegida ausgerechnet in Dresden Fuß gefasst hat. Ich will nicht relativieren, aber ich muss es doch tun. Ich bin ja auch eine Ostdeutsche, und den Pegida-Stiefel ziehe ich mir nicht an.

Zumal der Begriff der Integration oder eben Nicht-Integration auch für die Menschen, die unter dem Pegida-Banner auf die Straße treten, fehlgeht. Inwiefern sind sie nicht integriert? Weil sie sich nicht an einer linken Leitkultur, wie sie Augstein in demselben Interview fordert, orientieren? Aber ein Mensch bewegt sich auch nicht automatisch außerhalb der demokratischen Normen, wenn er dieser linken Leitkultur nicht folgen mag (viele der Pegida-Aussagen könnten auch von Konservativen aus dem Westen stammen).

Wie ich bereits in meinem Text über Pegida geschrieben habe: Demokraten müssen Pegida aushalten. Auch wenn's wehtut (und den Schmerz kann ich nachvollziehen). Ich teile nicht die Meinung derer, die behaupten, Pegida habe einen Dammbruch bewirkt und Gewalt eskalieren lassen. Die Gewalt gab es lange vorher. Sie erhält nun mehr mediale Aufmerksamkeit. Pegida hat eine lange und breite Debatte ausgelöst, der sich dieses Land stellen muss: Über das Verhältnis unserer Kultur zur Kultur der „Fremden“, von deutscher Mehrheitsgesellschaft zu Muslimen. Leider wird diese Debatte vor allem negativ geführt. Nun, im Rahmen der Einheitsfeierlichkeiten, wäre es doch an der Zeit, die deutsche Kultur positiv zu diskutieren. Dazu gehört auch die positive Wendung des Begriffes „Leitkultur“, wie sie Augstein vornimmt. Was durchaus lobenswert ist.

Sind die Menschen im Osten und jene unverbesserlichen Pegida-Anhänger Hindernisse auf dem Weg zu einer links geprägten Leitkultur? Seltsame Vorstellung.

Zwischen Leitkultur und Akkulturation

Jakob Augstein nennt in dem Zitatkontext zudem den Begriff „Akkulturation“. Auch dieser Begriff stößt mir unangenehm auf, denn er bedeutet ja die Übernahme der Elemente einer fremden Kultur. Egal, wie man nun den Begriff der Kultur definiert - ob im weitesten Sinne oder im engeren Sinne der politischen Kultur: Inwiefern müssen denn Ostdeutsche hier etwas annehmen? Warum müssen sich einseitig Ostdeutsche in die "westliche" Kultur einfügen und integrieren? Warum bilden Ost- und Westkultur keine Einheit?

Es lohnt sich in diesem Zusammenhang das Streitgespräch zur Frage der Wiedervereinigung zwischen Rudolf Augstein und Günter Grass aus dem Jahre 1990 noch einmal durchzulesen. Grass forderte, eine Zwei-Staaten-Lösung in Form einer engen Konföderation immerhin als Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Augstein sagte damals etwas, das man als Grundproblem, nicht nur in der Debatte über die ehemalige DDR, sondern auch in Diskussionen um die „Integration“ der Ostdeutschen, begreifen kann:

„Wir könnten sie in Frieden lassen, wenn sie sich selbst regieren könnten – das können sie ersichtlich nicht. Also, glaube ich, es führt überhaupt kein Weg um eine Vereinigung herum. […] Was haben sie denn Positives? Kindergärten…“

Diese Aussage ist paternalistisch, und ja, auch herablassend. Weil sie nicht trennt zwischen dem Staatsversagen und dem Vermögen der Bevölkerung, ein funktionierendes Staatswesen aufbauen zu können.

Die ehemalige DDR wird dabei als Chiffre für das Defizitäre par excellence betrachtet. Die haben ja nichts – die können das ja nicht alleine (Selbst den Menschen in Kabul hat man nach der US-Intervention eine Zeit lang zugetraut, ein Staatswesen zu organisieren).

Der wirtschaftliche Untergang der DDR war Folge einer katastrophalen Planwirtschaft; der Prozess des Mauerfalls aber resultierte aus einer politischen Selbstermächtigung der Bürger, die damit immerhin ein bürgerliches Selbstverständnis offenbarten. Und sich als mündige Bürger behaupteten. Damit ließe sich schon ein Staat machen. Auch eine Bundesrepublik unter gemeinsamen Vorzeichen.

Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit

Wenn man jedoch nur das Scheitern sieht - und das mag den Blick auf Ostdeutsche bis heute prägen - ist es ganz selbstverständlich, dass man von den Verlierern der Geschichte die Integration in das Siegersystem abverlangt. Es will nur nicht recht zu einer linken Geisteshaltung passen.

Ach was. Vielleicht spricht aus mir - stellvertretend für all die anderen Ostdeutschen - auch nur eine enttäuschte Liebe. Dann eben nichts mit Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit.

„Es ist ja alles nicht böse gemeint“, sagt ein Facebook-Freund. „Ich mag Ostdeutsche. Ich habe viele ostdeutsche Freunde. Die finde ich wirklich nett.“ Man hört solche Sätze auch manchmal von Pegida-Anhängern: "Ich habe ja nichts gegen Ausländer. Mit meinem türkischen Nachbarn verstehe ich mich wirklich gut."

Dann steht der Integration ja nichts mehr im Wege.

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

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Marlen Hobrack

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