„Risse“ von Angelika Klüssendorf: Streng, lakonisch, niemals geschwätzig
Ich-Perspektive Wie Angelika Klüssendorf in „Risse“ eine triste Kindheit in der DDR erinnert, ist ein literarisches Ereignis. Klüssendorf steht mit ihrem Roman auf der Longlist des Deutsches Buchpreises. Zu Recht
Blindekuh als Versuch, der tristen Wirklichkeit zu entkommen
Foto: Imago/imagebroker
Angelika Klüssendorf ist eine der Pionierinnen des autofiktionalen Schreibens in Deutschland. Als 2011 der erste Band ihrer April-Trilogie erschien, Mädchen hieß er, sprach die Kritik freilich noch von einem starken „Adoleszenzroman“ und nicht davon, dass hier jemand seine trostlose Jugend in der DDR erzählte – und also der „noch viel zu wenig zur Sprache gebrachten Unterschicht im Sozialismus eine Stimme gibt“ oder so ähnlich.
Mit ihrem neuen Buch ist Angelika Klüssendorf nun wiederum die Überwinderin des simplen autofiktionalen Schreibens, das seit einiger Zeit in Mode ist. Sie ist es insofern, als ihr neues Buch Risse auf vielfältige Weise an den Stoff von Mädchen anschließt, man aber beim Lesen nicht stä
hließt, man aber beim Lesen nicht ständig die Autorin vor Augen hat – sondern ganz altmodisch einen Roman zu lesen glaubt, der natürlich autobiografische Züge trägt, aber das tun Romane, die (auch) aus der Ich-Perspektive geschrieben sind, meistens, wenn es sich nicht um besonders verspielte Fiktion handelt.„Verspielt“ wäre allerdings das Letzte, was einem zur Prosa von Klüssendorf einfiele. Stattdessen: streng, lakonisch, niemals geschwätzig. Der Eindruck des Romanhaften entsteht also aus dem Arrangement, aus der Bearbeitung des Stoffs, aus dem disziplinierten Schreiben, kurzum: aus der Literatur selbst – auch wenn der Text mit dem Foto auf dem Umschlag und dem Klappentext die autofiktionale Erwartungshaltung der Leser schön bedient: „Eines der wenigen Fotos, die es von mir gibt, habe ich selbst in einem Fotoatelier aufnehmen lassen. Es war kurz nach meiner Ankunft auf Usedom bei meinem Vater gewesen.“Sentimental, also grausamDer Vater also, genannt der „schöne Egon“, Aushilfskellner, Malermeister, auch Ölbildermaler, Säufer, Vergewaltiger („Diesen Satz zu schreiben, ist mit einem Ekelgefühl verbunden. Heiratsschwindler klingt so viel besser“), Charmeur, vielleicht sogar Spion, jedenfalls im Gefängnis gewesen – wenn man der Stimme vertrauen kann, die in den kursiven Passagen des Buches spricht. Hier tritt die Autorin einen Schritt vom Erzählen zurück und thematisiert den Akt des Erinnerns, und nichts anderes ist ja ein „Memoir“, wie man heute sagt.Dieser Vater, für den das Mädchen klauen muss – Klauen ist schon im Roman Mädchen ein Motiv –, kommt im Tod zu dem, was er vielleicht gerne gewesen wäre: ein Künstler. Atemlos liest man, wie er seine Tochter in das minutiös vorbereitete Ritual seines Selbstmords einbindet, sie „zur Komplizin“ macht, ihr Schnaps gibt, der unangenehm brennt und zugleich einen wohlig warmen Bauch macht; eine von zahllosen Ambivalenzen, die das Erleben des Mädchens prägen.Theatralisch stirbt der Vater allerdings nur in einer Erzählung, die die Tochter nach seinem langsamen Tod durch Lungenkrebs geschrieben hat, so erfahren wir Leser es. Literatur ist für das Mädchen nicht nur als Leserin ein Mittel, aus der tristen Wirklichkeit zu entkommen, sondern ist es auch schon für sie als Schreibende. Diese Erzählung schrieb sie, weil sie dem Vater „einen poetischen und selbstbestimmten Mord zuschreiben wollte“. In Wahrheit – aber was heißt das genau, wenn es eigentlich um Wahrhaftigkeit geht? – gab es einen Selbstmordversuch, den die Mutter vereitelte.Ausgerechnet die Mutter wird zur Lebensretterin. Die Mutter: unfähig zur Liebe, eine unbeholfene, sentimentale und also grausame Gestalt, und wenn sie im Morgenmantel am Tisch sitzt, eine Tasse Kaffee vor sich, dann ist es das „zefledderte Groschenheft aus dem Westen“, das einen Charakter in eine konkrete Welt setzt. Klüssendorf, die von 1961 bis zu ihrer Aussiedlung 1985 in Leipzig gelebt hat, setzt die DDR der späten 1960er und frühen 1970er Jahre äußerst diskret ins Werk, etwa in der Reinigungslotion „Yvette Intim“, die das Mädchen zu trinken versucht.Unaufdringlich werden die ungeheuerlichsten, oft mit Gewalt und Lüge, kaum je mit Liebe verbundenen Motive in den Text eingewoben. Man liest eine Literatur, die „durchgearbeitet“ wirkt und doch von nichts anderem als vom Leben spricht und so turmhoch über vielem steht, was an interessanten Geschichten auf den Markt geworfen wird. Angelika Klüssendorf steht mit Risse auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Der Preis für diese Autorin wäre ein gutes Zeichen.