Hitler und Sarrazin stehen also auch diese Woche ganz oben in den Bestsellerlisten von Spiegel und Stern, ach, es ist ein Skandal. Oder besser gesagt, es könnte ein Skandal werden, würde das Ausland nur endlich erkennen, was hier abgeht. Aber das Ausland zieht es offenbar vor, zu schweigen. Gut, in der Schweiz, wo man sich in Ranglisten (Fußball, Literatur, Kitaplätze pro Einwohner) immer am nur von Journalisten so genannten „großen Kanton“ orientiert, wurde die Sache schon wahrgenommen, allerdings von der Aargauer Zeitung auch wieder relativiert: Die Deutschen wollen doch nur diskutieren. Auch über hochkontroverse Themen wollen sie eben streiten und nicht nur (wie zum Beispiel unter Hitler) die Befehle von oben empfangen, und sie wollen diese Diskussionen auf einer soliden Textgrundlage führen.
Wälzer im Wortsinn
Dabei – so das Blatt – seien sowohl Mein Kampf als auch Sarrazins Wunschdenken wahrlich keine „leichte Kost“; die vom Münchner Institut für Zeitgeschichte bestellte historisch-kritische Ausgabe von Mein Kampf wurde mit mehr als 3.500 Anmerkungen versehen, und auch Sarrazins neues Buch steckt wieder voller Zahlenmaterial. Beides sind Wälzer im Wortsinn. „Wer sich durch die IfZ-Ausgabe durchgekämpft hat, ist anschließend mit Sicherheit kein glühen-der Hitler-Verehrer, sondern jemand, der ziemlich gut über den Nationalsozialismus und seine Vorgeschichte Bescheid weiß.“ Das deckt sich mit der Tendenz der meisten professionellen Kritiken, auch mit Gert Uedings Rezension der IfZ-Ausgabe von Mein Kampf bei uns im Freitag (02/2016). So weit, so beruhigend.
Aber was ist mit den Lesern, die sich durch den Sarrazin-Wälzer gequält haben? Worüber wissen die nun besser „Bescheid“ als vor der Lektüre? Und gibt es irgendetwas, das auch der gründlichste Sarrazin-Leser „mit Sicherheit“ nicht wird? Die Frage scheint müßig. Die These sei gewagt, dass sich außer ein paar extrem gewissenhaften Beamten im Ruhestand (Kernpublikum!) kaum jemand durch ein fast 600-seitiges Buch quält, das wie der monströse Blogeintrag eines höchst gewissenhaften, schriftstellerisch aber mäßig begab-ten Beamten im Ruhestand anmutet.
Noch weniger als in Deutschland dürfte Sarrazin nur noch im Ausland gelesen werden. Ein starkes Indiz dafür ist die sinkende Zahl der Übersetzungen seiner Bücher. Wurde Deutschland schafft sich ab noch in fünf nichtdeutschsprachigen Ländern verlegt – Frankreich, Russland, Ukraine, Tschechien und Estland –, waren es beim Nachfolger Europa braucht den Euro nicht noch vier (neu kam Polen dazu!), der Neue Tugendterror fand gerade mal zwei Abnehmer, und für das neue Buch sind bisher noch keine Lizenzen ins Ausland verkauft.
Die Tabelle drehn
Nun denn. Oben in der Bestsellerliste stehen in der Regel sowieso nicht die besseren Bücher, wie jeder weiß. Nein, dort stehen einfach nur die erfolgreicheren, die, die in den Zeitgeist passen, oder die, die überhaupt immer und zu jeder Zeit passen. Die Spiegel-Bestsellerliste sähe ja völlig anders aus, würden nicht ganze Sorten von Büchern ausgeschlossen: Duden, Kochbücher, Ratgeber, Fitnessrezepte ... Aber will man diese büchergruppenbezogene Diskriminierung wirklich beklagen? Lösen wir uns doch endlich von der Fixierung auf die Top Acts. Befreien wir uns, langsam, aber sicher, von unserer Bestsellerlistengläubigkeit. „Willste Hertha oben sehen, musste die Tabelle drehen“, skandierten Fans des Berliner Fußballvereins, als der auf den Abstiegsrängen lag.
Also rasch mal den Spiegel, Seite 135, auf den Kopf gestellt. Und siehe da, jetzt ganz oben: der Sohn von Erwin Strittmatter, Erwin Berner, mit seinen lesenswerten Erinnerungen an Schulzenhof, und Dennis Gastmann, Atlas der unentdeckten Länder. Sind natürlich gar nicht unentdeckt, diese Flecken abseits der Touristenroute. Aber aufregend ist es schon, wenn Gastmann auf eine polynesische Version von Marlon Brando trifft, die ihm gleich als Erstes sagt: „Ich weiß, was du denkst. Ich sehe aus wie Brando.“
Ach, es gäbe so viele Reisereportagen, die auf die Bestsellerliste gehörten. Die gekauft werden müssten wie sonst nur Kochbücher, Ratgeber oder Fitnessrezepte. Oder wenigstens wie Wunschdenken, dessen Autor man im Übrigen für die Zukunft ein paar schöne weite Reisen mit vielen interessanten und lehrreichen Begegnungen wünscht.
Kommentare 4
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Es mag sein, dass Bestsellerlisten nichts taugen. (Ich schließe mich da an – allerdings mit dem Zusatz, dass die sowieso nur zusammengefummelt sind und daher eh keine Repräsentationskraft haben.) Sarrazin & Hitler als Top-Acts (noch dazu zur selben Zeit) muß allerdings zu denken geben. Nicht, dass die Deutschen »den Faschismus« in den Genen hätten. Allerdings ein erkennbares Faible für die berüchtigten, auch für den Betrieb eines Konzentrationslagers bestens geeigneten Sekundärtugenden: Ordnung, preußisches Pflichtbewußtsein bis zur Aufopferung, Arbeiten »bis zur Vergasung« (woher das – im informellen Bereich weiterhin gebräuchliche – Bonmot nur kommt?).
Hitler und Sarrazin mögen sich im Punkt Hundeliebe unterscheiden. (Der große Führer der Deutschen war bekanntlich Hundenarr; vom ehemaligen SPD-Spar-Hardliner ist bislang nur seine Marotte für Zahlen bekannt.) Beide sind allerdings in der Lage, erfolgreich den deutschen Beschützerinstinkt für sich zu mobilisieren. Dass Hitler einen Schlag hatte bei wohlbetuchten Gönnerinnen aus dem rechtskonservativen Milieu, ist bekannt. Bei Sarrazin dürfte eher der Affekt »Einer von uns« zum Zug kommen. Bürokrat durch und durch, Sekundärtugenden-Verherrlichung wie im Beitrag treffend beschrieben. Reicht diese Mischung allerdings für Top-Bestsellerränge aus (wenn auch in beiden Fällen als eher trübes Remake), sollte man sich Gedanken machen.
Über was? Gute Frage. Wenn’s in Frankreich schief läuft, kämpfen die Franzosen & Französinnen gemeinhin für ein besseres Leben. In Italien begegnet man neoliberalen Zumutungen mit einer Haltung, die mit dem Götz-Zitat gut auf den Punkt gebracht ist. Die Deutschen? Leider ist es so, dass die sich im Fall des Falles vor allem nach effektiveren Hundehalsbändern umsehen.
Hallo Michael Angele.
„Noch weniger als in Deutschland dürfte Sarrazin nur noch im Ausland gelesen werden. Ein starkes Indiz dafür ist die sinkende Zahl der Übersetzungen seiner Bücher. Wurde Deutschland schafft sich ab noch in fünf nichtdeutschsprachigen Ländern verlegt – Frankreich, Russland, Ukraine, Tschechien und Estland –, waren es beim Nachfolger Europa braucht den Euro nicht noch vier (neu kam Polen dazu!), der Neue Tugendterror fand gerade mal zwei Abnehmer, und für das neue Buch sind bisher noch keine Lizenzen ins Ausland verkauft.“
Thilo schleift sich ab. Ich glaube auch, dass sich de Masche überlebt hat, Sarrazin hat, auch wegen seiner „Aura“ und weil Teile seines Denkens nun nicht mehr so provokativ sind, nicht das Zeug zur Gallionsfigur.
„Lösen wir uns doch endlich von der Fixierung auf die Top Acts. Befreien wir uns, langsam, aber sicher, von unserer Bestsellerlistengläubigkeit. „Willste Hertha oben sehen, musste die Tabelle drehen“, skandierten Fans des Berliner Fußballvereins, als der auf den Abstiegsrängen lag.“
Zumal viel gekauft nicht zwingend auch viel und zu Ende gelesen bedeuten muss. Neben der Fixierung auf die Top Acts würde ich zusätzlich noch die Gläubigkeit an Zahlen und Daten, die angeblich nicht lügen, keiner Interpretation bedürfen usw. hinterfragen. Von der Frage wie aussagekräftig eine zum Biologismus (und damit zur Weltanschauung) ausgedehnte Biologie überhaupt ist, der Testosteron Artikel verschafft da u.a. wohltuende Aufklärung.
...der monströse Blogeintrag eines höchst gewissenhaften, schriftstellerisch aber mäßig begabten Beamten im Ruhestand...
Ha, vielleicht bereichert der ja auch schon seit geraumer Zeit als Avatar XY die Freitag-Community!?
PS: Der freundlich-sarkastische Ton, in dem dieser Text daher kommt, als würde man über schrullige Erscheinungsformen in Lemuria berichten, ist vielleicht der einzige Modus, in dem sich noch auf den ganzen Scheiß eingehen lässt. Danke! :-)