Verkehrtes Wunschdenken

Literatur Über einen kreativen Umgang mit der aktuellen „Spiegel“­-Bestsellerliste
Ausgabe 19/2016
Was ist mit den Lesern, die sich durch den Sarrazin-Wälzer gequält haben?
Was ist mit den Lesern, die sich durch den Sarrazin-Wälzer gequält haben?

Bild: Carsten Koall/Getty Images

Hitler und Sarrazin stehen also auch diese Woche ganz oben in den Bestsellerlisten von Spiegel und Stern, ach, es ist ein Skandal. Oder besser gesagt, es könnte ein Skandal werden, würde das Ausland nur endlich erkennen, was hier abgeht. Aber das Ausland zieht es offenbar vor, zu schweigen. Gut, in der Schweiz, wo man sich in Ranglisten (Fußball, Literatur, Kitaplätze pro Einwohner) immer am nur von Journalisten so genannten „großen Kanton“ orientiert, wurde die Sache schon wahrgenommen, allerdings von der Aargauer Zeitung auch wieder relativiert: Die Deutschen wollen doch nur diskutieren. Auch über hochkontroverse Themen wollen sie eben streiten und nicht nur (wie zum Beispiel unter Hitler) die Befehle von oben empfangen, und sie wollen diese Diskussionen auf einer soliden Textgrundlage führen.

Wälzer im Wortsinn

Dabei – so das Blatt – seien sowohl Mein Kampf als auch Sarrazins Wunschdenken wahrlich keine „leichte Kost“; die vom Münchner Institut für Zeitgeschichte bestellte historisch-kritische Ausgabe von Mein Kampf wurde mit mehr als 3.500 Anmerkungen versehen, und auch Sarrazins neues Buch steckt wieder voller Zahlenmaterial. Beides sind Wälzer im Wortsinn. „Wer sich durch die IfZ-Ausgabe durchgekämpft hat, ist anschließend mit Sicherheit kein glühen-der Hitler-Verehrer, sondern jemand, der ziemlich gut über den Nationalsozialismus und seine Vorgeschichte Bescheid weiß.“ Das deckt sich mit der Tendenz der meisten professionellen Kritiken, auch mit Gert Uedings Rezension der IfZ-Ausgabe von Mein Kampf bei uns im Freitag (02/2016). So weit, so beruhigend.

Aber was ist mit den Lesern, die sich durch den Sarrazin-Wälzer gequält haben? Worüber wissen die nun besser „Bescheid“ als vor der Lektüre? Und gibt es irgendetwas, das auch der gründlichste Sarrazin-Leser „mit Sicherheit“ nicht wird? Die Frage scheint müßig. Die These sei gewagt, dass sich außer ein paar extrem gewissenhaften Beamten im Ruhestand (Kernpublikum!) kaum jemand durch ein fast 600-seitiges Buch quält, das wie der monströse Blogeintrag eines höchst gewissenhaften, schriftstellerisch aber mäßig begab-ten Beamten im Ruhestand anmutet.

Noch weniger als in Deutschland dürfte Sarrazin nur noch im Ausland gelesen werden. Ein starkes Indiz dafür ist die sinkende Zahl der Übersetzungen seiner Bücher. Wurde Deutschland schafft sich ab noch in fünf nichtdeutschsprachigen Ländern verlegt – Frankreich, Russland, Ukraine, Tschechien und Estland –, waren es beim Nachfolger Europa braucht den Euro nicht noch vier (neu kam Polen dazu!), der Neue Tugendterror fand gerade mal zwei Abnehmer, und für das neue Buch sind bisher noch keine Lizenzen ins Ausland verkauft.

Die Tabelle drehn

Nun denn. Oben in der Bestsellerliste stehen in der Regel sowieso nicht die besseren Bücher, wie jeder weiß. Nein, dort stehen einfach nur die erfolgreicheren, die, die in den Zeitgeist passen, oder die, die überhaupt immer und zu jeder Zeit passen. Die Spiegel-Bestsellerliste sähe ja völlig anders aus, würden nicht ganze Sorten von Büchern ausgeschlossen: Duden, Kochbücher, Ratgeber, Fitnessrezepte ... Aber will man diese büchergruppenbezogene Diskriminierung wirklich beklagen? Lösen wir uns doch endlich von der Fixierung auf die Top Acts. Befreien wir uns, langsam, aber sicher, von unserer Bestsellerlistengläubigkeit. „Willste Hertha oben sehen, musste die Tabelle drehen“, skandierten Fans des Berliner Fußballvereins, als der auf den Abstiegsrängen lag.

Also rasch mal den Spiegel, Seite 135, auf den Kopf gestellt. Und siehe da, jetzt ganz oben: der Sohn von Erwin Strittmatter, Erwin Berner, mit seinen lesenswerten Erinnerungen an Schulzenhof, und Dennis Gastmann, Atlas der unentdeckten Länder. Sind natürlich gar nicht unentdeckt, diese Flecken abseits der Touristenroute. Aber aufregend ist es schon, wenn Gastmann auf eine polynesische Version von Marlon Brando trifft, die ihm gleich als Erstes sagt: „Ich weiß, was du denkst. Ich sehe aus wie Brando.“

Ach, es gäbe so viele Reisereportagen, die auf die Bestsellerliste gehörten. Die gekauft werden müssten wie sonst nur Kochbücher, Ratgeber oder Fitnessrezepte. Oder wenigstens wie Wunschdenken, dessen Autor man im Übrigen für die Zukunft ein paar schöne weite Reisen mit vielen interessanten und lehrreichen Begegnungen wünscht.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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